Sein anderes Gesicht
besuchen.«
Seinen alten Vater? Auf La Reunion? Was ist das denn für ein Schwachsinn?
»Wirklich?«
»Sehe ich so aus, als ob ich scherze?«
»Hat er eine Adresse hinterlassen, unter der man ihn erreichen kann?«
»Ah, da müssten Sie sich an Monsieur Tomaso wenden .«
Ja, ja, ich weiß, ab achtzehn Uhr ist er im Haus. Ich danke ihm, ohne weiter darauf zu achten, was er mir noch sagt, und bin schon wieder draußen, Johnny hat sich abgesetzt. Die Angst, dass er tatsächlich die Stadt verlassen hat, schnürt mir die Kehle zu. Möglicherweise ist er schon weit weg, mit dem Flugzeug oder dem Zug unterwegs in eine andere Stadt. Der Gedanke, dass ich vielleicht nie mehr sein Gesicht sehen werde, ist mir unerträglich. Ich brauche ihn.
Ich muss etwas unternehmen. Ich kann nicht untätig herumsitzen und warten. Nach den Morden und Johnnys Verschwinden spüre ich, dass ich kurz davor bin, durchzudrehen. Ich beschließe, Louisette einen Besuch abzustatten und noch mal einen Blick in Maevas Wohnung zu werfen für den Fall, dass mir irgendetwas entgangen sein sollte.
Louisette ist nicht da. Doch die Tür zu Maevas Wohnung steht einen Spalt weit offen.
Ich nähere mich lautlos und drücke mein Ohr an die Tür. Zigarettenrauch, leises Rascheln. Vielleicht ist der Mörder an den Ort des Verbrechens zurückgekehrt. Vorsichtig schiebe ich die Tür Millimeter für Millimeter auf. Im Flur ist es dunkel. Ich sehe ins Wohnzimmer. Jemand sitzt auf dem Sofa und raucht. Ich halte den Atem an und versuche, die Person zu erkennen.
»Komm herein, Bo. Fühl dich ganz wie zu Hause.«
Es ist der Pastor! Den Bruchteil einer Sekunde erwäge ich abzuhauen. Dann gehe ich auf ihn zu. Unter halb geschlossenen Lidern mustert er meine Aufmachung.
»Du siehst aus, als wolltest du eine Rolle in der Addams Family ergattern«, meint er grinsend.
Doch dann wird er ernst und fragt:
»Was hast du hier verloren?«
»Ich wollte Louisette Vincent besuchen. Ich hatte das Bedürfnis, mit jemandem zu sprechen.«
»Du meinst, du wolltest dich jemandem anvertrauen?«
»Nein, ich wollte einfach nur reden.«
»Du kannst mit mir reden, wenn du willst. Setz dich. Ich hör dir zu.«
Ich bleibe stehen. Das Zimmer stinkt nach getrocknetem Blut. Die Buchstaben an der Wand brennen mir in den Augen. Und der Pastor macht mir Angst.
»Wusstest du, dass Maeva was mit deinem Typen laufen hatte?«
Was erzählt er da?
»Mit welchem Typen?«
»Also wirklich, Ancelin! Alle Welt weiß doch, dass du eine Schwäche für den Kerl hast, der gegenüber von Bull Cargese wohnt. Ich spreche von Johnny Belmonte.«
Er kennt nicht mal seinen richtigen Namen. Er weiß nichts über ihn. Seine Zigarette knistert, die Glut schimmert rötlich. Er fährt sich mit der Hand träge durchs Haar.
»Hast du gehört?«, fragt er.
»Ja. Aber ich hab nichts mit Belmonte.«
»Aber du würdest gern, nicht wahr?«, erwidert er und drückt die Zigarette auf einer Alabasternachbildung von Sacre-Coeur aus. »Offenbar bist du total verrückt nach ihm … Ich habe die … >Freundinnen< von Maeva befragt, die übrigens auch deine Freundinnen sind, wie sich herausgestellt hat. Stephanie Boucebsi und Frank Rasetto, genannt Lady Di . Sie können Johnny nicht besonders gut leiden. Er scheint ein Arschloch zu sein.«
Ich stehe neben dem Fernseher und warte ab, was als Nächstes kommen wird. Das Blut ist inzwischen getrocknet, und der Bildschirm nun mit einer braunen Kruste überzogen. Ich muss an mich halten, um sie nicht mit dem Fingernagel abzukratzen.
»Die Witwe Vincent hat sich im Übrigen an einen Mann erinnert, der Maeva in letzter Zeit häufig besucht hat«, fährt der Pastor mit seiner sonoren Stimme fort. »Ein großer, muskulöser Blonder mit kurzem, akkurat geschnittenem Haar. Und schönen blauen Augen. So sieht dein Johnny doch aus, nicht wahr?«
Nun beginnt der freie Fall. Maeva und Johnny? Das ist unmöglich. Völliger Unsinn!
Der Pastor knackt mit den Fingern und wirkt in keinster Weise so, als würde er Unsinn reden. Die Dunkelheit, der Geruch, dieser traurige Ort scheinen ihn nicht zu stören. Ich weiß, dass er nachdenkt, dass er hierher gekommen ist, um nachzudenken, um alles herauszubekommen. Und um herauszufinden, wie er mich in die Falle locken kann.
»Nun, mein kleiner Ancelin, hast du dir jetzt so lange auf die Zunge gebissen, bis du sie schließlich verschluckt hast?«, säuselt er, während er seine Brille abnimmt und mit einem Kleenex putzt, das er aus der Tasche
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