Sein anderes Gesicht
zwei Stufen auf einmal nehmend, hinauf. Ich klingle Sturm, keine Antwort. Der Typ mit dem Messer ist hier aus dem Haus gekommen, und Louisette macht nicht auf. Ich sehe mich schon die Tür aufbrechen, doch zum Glück hält mich mein Realitätssinn davon ab, mir auch noch den anderen Arm zu brechen. Was nun?
Maevas Schlüssel! In meiner Tasche. Die Balkone der beiden Wohnungen grenzen aneinander. Einbruch in eine von der Polizei versiegelte Wohnung. Doch was habe ich zu verlieren? Entweder wandere ich wegen Mordes in den Knast oder eben nicht.
Der Schlüssel dreht sich im Schloss, und die Tür springt auf. Wieder sehe ich den kleinen Flur und das Wohnzimmer, rieche diesen Ekel erregenden Geruch, der einem zu Kopf steigt. Wer wird eigentlich die Wohnung sauber machen? Gibt es für so etwas eine spezielle Reinigungsfirma? Werden sie Maevas Sohn ausfindig machen, um ihm dann die Rechnung zu präsentieren? Schluss mit diesen Gedanken, Miss Bo.
Ich öffne die Glastür und stehe auf dem Balkon, dritter Stock. Es stimmt, man kann von hier das Meer sehen, ja, man spürt sogar die frische, abendliche Brise.
Eine etwa ein Meter achtzig hohe Wand trennt die beiden Balkone. Das heißt, ich muss versuchen, von außen über die Brüstung hinüberzugelangen, und dafür müsste ich mich an Maevas Balkon mit der linken Hand festhalten, was mir nicht möglich ist. Ich gehe in die Wohnung zurück und suche eine Trittleiter. In der Küche neben dem Bügelbrett werde ich fündig. Ich streife mir rosafarbene Gummihandschuhe über und trage die Leiter auf den Balkon. Die Klettertour kann beginnen.
Als ich rittlings auf der Trennwand zwischen den beiden Baikonen sitze, hoffe ich inständig, dass die Leute unten nicht auf die Idee kommen, die Möwen zu beobachten. Ich stütze mich mit dem rechten Arm ab und lasse mich vorsichtig auf die andere Seite gleiten. Nach dem spektakulären Sprung von gerade eben muss ich nun feststellen, dass meine Kniescheiben doch nicht so robust und meine Knöchel deutlich weniger geschmeidig sind: Ich entgehe nur knapp einer Bruchlandung.
Ich rappele mich auf und gehe an der Fensterfront entlang, wobei ich nervös das Messer umklammere. Louisettes Wohnzimmer ist in völlige Dunkelheit getaucht. Der Widerschein der Straßenlaternen macht es mir unmöglich, irgendetwas zu erkennen. Ich schiebe die Balkontür auf und schleiche mich hinein. Da sie möglicherweise, sturzbetrunken, schläft, mache ich kein Licht an. Sonst reiße ich sie womöglich noch aus dem Schlaf und riskiere, dass sie einen Herzschlag bekommt. Vorsichtig taste ich mich vorwärts. Ich stoße mich an einer Tischkante und verrenke mir den Knöchel, als ich über das Telefonkabel stolpere. Besagtes Telefon poltert mit großem Getöse zu Boden. Ich hebe es auf und stelle es mit klopfendem Herzen auf die Konsole zurück. Nichts rührt sich. Louisette ist offensichtlich nicht da.
Ich sinke schwer atmend auf das Sofa. Eine kurze Verschnaufpause habe ich jetzt dringend nötig. Doch was ist das? Erschrocken springe ich auf: Da sitzt jemand! Meine Kehle ist wie zugeschnürt, und aus meinem weit geöffneten Mund dringt lediglich ein stummer Schrei.
Ich bemühe mich, wieder normal zu atmen. Und wenn das der Kerl von vorhin ist? Blödsinn, schließlich habe ich ihn ja weggehen sehen. Ich gehe langsam rückwärts, falle beinahe hin und suche Schutz hinter einem Sessel. Die sitzende Gestalt rührt sich nicht vom Fleck, eine dunkle Masse im Dämmerlicht. Draußen fährt ein Auto um die Kurve, und die Scheinwerfer erleuchten kurz das Zimmer.
Es ist Louisette! Ich springe auf. Sie regt sich noch immer nicht, und ich weiß, dass sie das auch niemals mehr tun wird. Die leuchtend rote Kette um ihren Hals lässt sich nicht abnehmen. Man hat sie ihr ins Fleisch geschnitten.
Ihre haselnussbraunen Augen sind weit aufgerissen. Vielleicht betrachtet sie das Meer hinter mir. Ihre Hände liegen auf dem Polster. Das Blut hat auf der Bluse mit dem Jabotkragen, dem Rock und den Strümpfen Flecken hinterlassen. Ihr Kopf ruht an der Rückenlehne, deshalb ist sie auch nicht in sich zusammengesunken. Ich berühre ihre kalte Wange und spüre, wie sich meine Augen mit Tränen füllen - ein merkwürdiges Gefühl. Ich wische sie mit meinen Gummifingern weg.
Noch ein Mord.
Noch eine Leiche.
Noch jemand, den ich kannte. Und ich befinde mich am Tatort, zu dem ich mir unrechtmäßig Zugang verschafft habe. Wenn ausgerechnet jetzt jemand hier aufkreuzen würde .
Nach einem
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