Sein anderes Gesicht
Riesengetöse auf mich fällt. Ich ziehe den Kopf ein, mache mich ganz klein. Nichts.
Ein brauner Umschlag segelt zu Boden.
Ich ziehe den Boxhandschuh aus, wische mir über die Stirn und hebe ihn auf. Es sind Fotos darin, die offensichtlich mit einem Zoomobjektiv aufgenommen wurden. Leute, die ich nicht kenne, andere, die ich schon mal gesehen habe. Zum größten Teil miese Typen. Kleine Ganoven, aus einiger Entfernung in dunklen Straßen aufgenommen, während sie irgendwelche zweifelhaften Geschäfte abwickeln. Fotos von Johnny, Fotos von mir, Johnny, wie er in ein Taxi steigt. Johnny, wie er mit Elvira spricht. Ich als Frau, vor der Kneipe sitzend.
Ich gehe zum Fenster hinüber. Von hier hat man einen fantastischen Ausblick. Man sieht den gesamten Platz, den Hauseingang und sogar die angrenzende Straße. Das miese Schwein … Ich schaue mir die anderen Fotos an.
Huren, Freier, die mit ihnen verhandeln. Ein Typ, der in der Nähe des Brunnens ein weißes Tütchen in seiner Tasche verschwinden lässt. Ein gut gekleideter alter Mann, der sich gerade nach hübschen kleinen Kindern den Hals verrenkt. Maeva, wie sie aus ihrem Haus kommt.
Und da, der Tahitianer. Der Tahitianer in einem Hauseingang verborgen, während Maeva die Straße überquert. Die Bullen sollten mich als Aushilfsschäferhund engagieren: Auf allen Vieren bin ich sehr gut, und außerdem habe ich den richtigen Riecher.
Noch einmal der Tahitianer, diesmal hat er es offensichtlich eilig und sieht gehetzt aus.
Wieder Maeva, nun in Begleitung von Stephanie.
Der Tahitianer, wie er am Ambassador vorbeigeht. Im Hintergrund, auf der Treppe, ist Johnny zu erkennen.
Eine Vergrößerung der vorherigen Aufnahme von Johnny als Kellner. Bull muss sich mächtig über diese Entdeckung gefreut haben. Weiter.
Das erleuchtete Zimmer einer Wohnung.
Eine geflieste Arbeitsplatte. Das Foto ist in der Mitte durchgerissen worden. Die Fliesen sind mit großen braunen Flecken übersät. Was war auf der anderen Hälfte des Fotos? Ich sehe noch einmal im Umschlag nach und ziehe die Tüte mit den Negativen hervor. Rasch schaue ich sie im Gegenlicht an. Alle Fotos sind nummeriert, doch es fehlen die Negative von S18 bis S28. Vielleicht hat Bull einen Teil des Films mitsamt den Abzügen woanders versteckt, oder jemand hat sie mitgenommen.
Ich halte die zweite Hypothese für wahrscheinlicher. Als ich bei meinen Überlegungen gerade an diesem Punkt angekommen bin, geht plötzlich die Wohnungstür auf. Ein junger Typ mit einer Waffe in der Hand steht völlig außer Atem auf der Türschwelle. Ich kann ihn im Spiegel sehen, doch er hat mich noch nicht entdeckt. Er trägt eine Lederjacke, und auf seiner Stirn klebt überdeutlich ein Schild mit der Aufschrift »Polizei«. Ich greife mir den japanischen Morgenstern und drücke mich an die Wand. Vorsichtig tritt er ins Zimmer, und ich brate ihm mit der Waffe eins über. Er schreit: »Scheiße!«, stolpert, ich stoße ihn, er fällt hin, ich springe in den Hausflur, und genau wie im Fernsehen brüllt er: »Halt, stehen bleiben!« hinter mir her. Doch Magic Bo stürmt in Rekordzeit die Treppe hinunter.
Die Straße, der Lärm, die Dunkelheit. O geliebte Nacht, o sanfte, gütige Patin, die du dich über dein missratenes Kind herabsenkst, erhöre mein Flehen: Verwandle diesen Polizisten in einen Frosch und lass uns nicht mehr davon sprechen!
Der junge Polizist läuft mit großen Schritten über den Platz, wobei er aufgeregt ruft. Ich stehle mich in die Kirche und husche an den ordentlich polierten Bänken entlang. Der wohltuende Geruch nach Bohnerwachs und biologischen Bienenwachskerzen umfängt mich. Ich verstecke mich in einem leeren Beichtstuhl, und während ich warte, bete ich mein Sündenregister herunter. Doch das dauert zu lange, und so wage ich mich hinaus: Kein Bulle in Sicht, ich gehe ruhig davon.
Mein Handgelenk tut weh. Auf der Terrasse eines ThaiRestaurants spüle ich mit einem chinesischen Bier eine Schmerztablette hinunter. Der Duft von Basilikum und Zitronengras.
Bull war also ein Spitzel. Er folgte Maeva, um herauszufinden, wer sie terrorisierte, er traf auf den Tahitianer und folgte ihm, zu jenem berühmten »Raum«. Wie soll ich diesen Raum finden?
Ich trinke mein Bier aus und mache mich wieder auf den Weg. Eine leichte Meeresbrise umhüllt mich. Möwen gleiten vorüber, ihre Schreie durchdringen gellend die Nacht.
Ein blutverschmierter Raum, anonym und verschwiegen, der sich hinter einer der unzähligen Mauern
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