Sein anderes Gesicht
letzten Blick auf die alten Tänzerin verlasse ich schleunigst ihre Wohnung. Ich springe hoch, halte mich mit der rechten Hand oben an der Trennwand fest, winde mich wie ein Affe, stütze mich dabei mit den Füßen an der Wand ab und schaffe es schließlich auf diese Weise, bäuchlings nach oben zu gelangen. Ich gleite auf die Trittleiter hinab, trage sie zurück und sehe zu, dass ich auf schnellstem Weg aus der Wohnung komme.
Wieder an der frischen Luft. Laufen. Nur weg. Erst als ich den Blumenmarkt sehe, werde ich allmählich ruhiger und zwinge mich nachzudenken.
Um etwas Logik in die Sache zu bringen. Der Typ kam aus dem Haus. Er hatte ein Messer. Louisette ist die Kehle durchgeschnitten worden. Also hat er sie umgebracht.
Aber warum? Am einleuchtendsten erscheint mir, dass Louisette gesehen hat, wie er vor dem Mord in Maevas Wohnung gegangen ist.
Und ich? Warum wollte er mich töten? Führt er einen persönlichen Rachefeldzug gegen Maevas Freunde? Ein Rachefeldzug, der mit den Prostituiertenmorden nichts zu tun hat? Ich stehe derart unter Druck, dass ich drauf und dran bin, Passanten anzuhalten und sie nach ihrer Meinung zu fragen: »Vor knapp einer halben Stunde wäre ich fast umgebracht worden! Alle Leute, die ich kenne, gehen einer nach dem andern drauf, und die Bullen wollen mir die Morde in die Schuhe schieben. Ist unter den Anwesenden hier im Saal vielleicht ein Detektiv, der mir helfen könnte?!«
Ich muss unbedingt mit dem Pastor sprechen. Ihm sagen, dass ein Mann versucht hat, mich umzubringen. Dass er aus Louisettes Wohnung kam. Und dass Louisette tot ist.
»Ach ja?«, wird er sagen. »Und wer, außer dir, Schätzchen, hat diesen Mann noch gesehen?«
Ich werde ihm das Messer zeigen.
»Fantastisch, genau mit diesem Messer ist Maeva getötet worden.«
Und ehe ich mich versehe, wird er mich dieser beiden Morde beschuldigen, und wenn ich in zwanzig Jahren aus dem Knast komme, bin ich halb kahl und konnte mich nicht mal liften lassen.
Stopp.
Ganz ruhig. Geh alles noch einmal der Reihe nach durch.
Erstens: Zwei Prostituierte werden mit einem Hackbeil getötet.
Zweitens: Marlene wird überfallen, doch der Mörder lässt von seinem Opfer ab, als er merkt, dass es sich um einen Mann handelt.
Drittens: Maeva wird umgebracht, weil sie die Person gesehen hat, in deren Begleitung Marlene weggegangen ist. Man schreibt meinen Namen an die Wand, um den Verdacht auf mich zu lenken. Der Täter weiß demnach, dass ich eine Freundin von Maeva bin.
Viertens: Bull, der behauptet, den Prostituiertenmörder zu kennen, wird umgebracht.
Fünftens: Der Täter tötet Louisette, die den Mörder sicherlich schon mal vor Maevas Wohnung gesehen hat.
Sechstens: Kurz bevor ich Louisette mit aufgeschlitzter Kehle finde, versucht ein Asiate, mich im Eingang ihres Wohnhauses umzubringen.
Diese Schlussfolgerung erscheint mir logisch. Vor allem, wenn man berücksichtigt, dass Maeva den Asiaten kannte und, Stephanie zufolge, Angst vor ihm hatte. Und nun?
Kein Mensch wird mir glauben. Es gibt einfach keine Verbindung zwischen diesem Mann und all den Morden. Selbst ich kann mir keinen Reim auf das Motiv machen. Oder auf seine Wut gegen mich.
Ohne zu wissen, wie, stehe ich auf einmal vor dem Ambassador. Gedankenverloren gehe ich hinein. Wenn der Tahitianer Bull getötet hat, muss Bull tatsächlich etwas gewusst haben. Doch woher kannten sich die beiden? Warum ist Bull an jenem Ort gewesen, den er »den Raum« nannte?
In der Eingangshalle drängt sich eine redselige italienische Reisegruppe. Ich versuche die Aufmerksamkeit des hoffnungslos überlasteten Angestellten an der Rezeption auf mich zu lenken. Wo könnte dieser Raum sein? Vielleicht in einem solchen Hotel? Und was befindet sich darin? Sicher erdrückendes Beweismaterial. Und wenn Bull den Tahitianer kannte, kennt Johnny ihn dann womöglich auch?
»Mademoiselle?«
Ich drehte mich um, um zu sehen, welches Fräulein er meint. Mist, er meint natürlich mich. Ich frage nach Monsieur Tomaso. Man bringt mich zu einem Zimmer, auf dessen Tür ein Schild mit der Aufschrift »Privat« prangt. Ein kleiner, kahlköpfiger Mann mit einem Dreiteiler hebt den Kopf, als ich eintrete. Während ich ihm mein Anliegen unterbreite, fixiert er mit anhaltendem Interesse meinen winzigen Busen. Vielleicht arbeitet er gerade an einer Doktorarbeit über die verschiedenen Entwicklungsstufen sekundärer Geschlechtsmerkmale? Ich erzähle dem glänzenden Kahlkopf, ich müsse unbedingt Jonathan
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