Sein anderes Gesicht
Gips entlang. Mir fällt auf, das ich kurz und hechelnd atme wie ein Hund, ein völlig verdreckter, durchnässter und zitternder Hund, der auf einem cremefarbenen Chesterfield-Sofa kauert.
Jeröme Klein trinkt Tee aus einer chinesischen Porzellantasse. Die Teekanne dampft. Toastscheiben sind auf einem Teller angerichtet. Wie lange habe ich nichts gegessen?
»Ich habe den Eindruck, mein Bruder ist nicht gerade sehr freundlich mit Ihnen umgegangen«, sagt Klein zuckersüß.
Mein Brustkorb krampft sich zusammen. Ich will nicht mit Klein sprechen, ich will mit Johnny reden, ich will Johnny!
»Möchten Sie eine Scheibe Toast?«, fährt er fort. »Eine Tasse Tee?«
Ich antworte nicht. Meine Zunge klebt mir am Gaumen, meine Eingeweide krampfen sich zusammen, doch ich will ihm dieses Vergnügen nicht machen. Ich will nicht, dass Klein mich füttert.
»Möchten Sie vielleicht wieder in den Raum zurück?«
Ich sehe ihm in die Augen.
»Wiieee Siieee wooolleeen .«
Meine Stimme zittert, raut meinen Mund auf und klingt in dem eleganten Wohnzimmer wie das Geblöke eines Opferlamms. Ich sehe, wie seine Finger, die den filigranen Henkel der Tasse umschließen, sich bei meinen Worten verkrampfen. Hat er vielleicht geglaubt, ich würde ihn anflehen?
Ich weiß, dass er mich dorthin zurückbringen wird, und dass es noch schlimmer sein wird, nachdem man das Licht, die Wärme und das Essen genossen hat, noch schlimmer, wenn sich die Tür wieder schließt und ich allein mit dem verwesenden Leichnam zurückbleibe.
»Ach, bitte, mir zuliebe .«
Er schenkt eine Tasse Tee ein und reicht sie mir. Ich kann sie kaum halten, zittere so stark, dass ich die Hälfte verschütte. Er füllt die Tasse erneut, erhebt sich und kommt näher. Ich warte auf die Ohrfeige. Er führt die Tasse an meine Lippen und flößt mir den Tee ein. Ich trinke!
Schmerzhaft rinnt der Tee durch meine Kehle, ich schlucke, verschlucke mich, hole nach jedem Tropfen tief Luft, lasse die Flüssigkeit durch meinen fiebrigen Gaumen laufen. Die Tasse ist leer. Er stellt sie ab.
Er nimmt einen Lachstoast, öffnet meine Lippen mit seinen behandschuhten Fingern. Er legt seinen Zeigefinger auf mein Zahnfleisch, dann, langsam, auf meine Zunge. Ich mache den Mund wieder zu, und meine Lippen umschließen seinen Finger in der Enge meines Mundes. Wird er mir die Zunge herausreißen?
Er zwingt meinen Kiefer auseinander und lässt mich vom Toast abbeißen. Immer nur ein kleines Stück. Er hat mich fest an den Haaren gepackt. Als ich alles gegessen habe, lässt er mich los. Ich hätte es gern, wenn er mich noch einmal so festhielte, mit der Strenge eines wohlwollenden Meisters. Aber er ist kein wohlwollender Meister. Er ist ein gefährlicher Irrer, der mich bei lebendigem Leib zerstückeln wird. Die Inkarnation meiner Albträume. Und ich weiß nicht, ob ich imstande bin, mich ihnen zu stellen.
Er beobachtet mich. Ein bärtiger Johnny mit dunklen Augen.
»Also, geht doch …«, sagt er. »Was sollen wir nur mit Ihnen machen?«
Ich sehe, wie meine Finger zwischen meinen Schenkeln zu zittern anfangen. Fieberschübe durchlaufen meinen Körper.
Er packt mich erneut an den Haaren, zerrt mich hoch und hinter sich her. Ich versuche zu laufen, doch meine Beine geben nach. Meine Knie schleifen über den Boden. Er zieht mich mit einer Leichtigkeit hinter sich her, als würde ich nichts wiegen. Ich fühle mich ihm vollkommen ausgeliefert. Unterworfen. Ein Objekt.
Fliesenboden, Panikattacke, doch dann sehe ich eine Badewanne, einen Spiegel. Es ist ein Badezimmer.
Er zieht mir den Blouson aus, riecht voller Ekel an ihm und wirft ihn auf den Boden. Er nimmt eine Schere und beginnt, meine Kleidungsstücke zu zerschneiden. Die Klingen berühren meine Haut. Ich rechne jede Sekunde damit, sie in mein Fleisch eindringen zu spüren. Doch nichts geschieht.
Er legt die Schere beiseite, schält mich aus meiner Jeans, wie man einem Kaninchen das Fell abzieht, streift mir das Sweatshirt und den schmutzigen Slip ab. Ich bin nackt.
Ich sehe mich im Spiegel: ein kleiner, Mitleid erregender Haufen Knochen, die Haare wirr, das Gesicht mit Rotz und Schminkresten verschmiert, eine mit dunklen Stoppeln übersäte Wange, winzige Brüste, besudelte Schenkel, das Geschlecht klein und verschrumpelt unter einem Büschel dunkler Haare verborgen. Ein kleiner, zitternder, vollkommen verschreckter Haufen Knochen.
Er hebt mich hoch, setzt mich in die Badewanne, die mit einer ultramodernen Dusche ausgestattet ist,
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