Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sein Anteil

Sein Anteil

Titel: Sein Anteil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Holger Wuchold
Vom Netzwerk:
purer Neugier. In der Regel war ein großer Teil der Post an ehemalige Mieter adressiert, die vergessen hatten, wem auch immer, ihre neue Anschrift mitzuteilen, oder einfach nicht wollten, dass ihnen Rechnungen oder amtliche Schreiben nachgesendet wurden.
    An diesem Morgen war ein Brief für ihn dabei. Wie von Willem seit längerem befürchtet, teilte ihm eine Genter Zeitung mit, sie würde ab sofort ihre Honorarüberweisungen an ihn einstellen. Darüber hinaus wurde er aufgefordert, sich mit der Geschäftsführung in Verbindung zu setzen. Er sollte einen Modus über die Rückzahlung der Honorare vereinbaren, die er ein Jahr lang ungerechtfertigt erhalten hatte. Die angegebene Summe, an deren Richtigkeit Willem nicht zweifelte, überstieg deutlich seine Rücklagen. Er zerriss mit einem Fluch auf den Lippen Brief und Umschlag und beschloss, sich nicht mit Gent in Verbindung zu setzen. Er würde einfach den Lauf der Dinge abwarten.
    Ein weiterer Brief weckte ebenfalls seine Aufmerksamkeit. Er war an einen Robin Clarke adressiert, einen freundlichen, kahlköpfigen Engländer, der bis vor etwa acht Monaten im Haus gewohnt hatte. Robin war der einzige Mieter, den Willem etwas näher kennen gelernt hatte. Sie hatten sich gelegentlich auf ein Bier in einem nahe gelegenen Pub den Kopf, die Zahlungsaufforderung der Genter Zeitung und seine große Geldnot im Allgemeinen, Hewitt, die Entführung und das Gespräch mit Pia.
    Es ärgerte ihn, dass sie ihren Freund hineinziehen wollte. Und vor allem ärgerte ihn, dass sie ihn ausgelacht hatte, als er ihr seine Absicht offenbarte. Doch er konnte keinen klaren Gedanken fassen, wollte es auch gar nicht. Er wollte die Dinge nicht an sich herankommen lassen. Alles Unangenehme sollte einfach aus seinem Leben verschwinden, wie im Hyde Park der Verkehrslärm verschwand.
    Die Sonne drohte kaum sichtbar, heizte den dichten Schleier aus Schmutz und Wolken mächtig auf. Willem folgte dem Pfad am Seeufer entlang, der ihn zu einem Café in einem schmucklosen Flachbau führte. Er nahm sich ein Sandwich aus der Glasvitrine, bediente sich am Kaffeeautomaten und schob sein Plastiktablett zur Kasse. Die Tische draußen waren über und über mit Vogelmist bedeckt. Also blieb er drinnen. Lustlos setzte er sich irgendwohin und schaute durch die verschmutzten Scheiben in den Park. Alte Leute und junge Japanerinnen nahmen ebenfalls einsam ihr Lunch ein.
    Vor ein paar Monaten hatte Willem sich in diesem Café aus einer Laune heraus zu einer kleinen Japanerin gesetzt und, da sie kaum Englisch sprach, eine recht einseitige Unterhaltung begonnen. Anschließend waren sie gemeinsam fast ohne ein Wort durch den Park gelaufen, dann mit der U-Bahn zu ihm gefahren. Sie schliefen am selben Nachmittag miteinander. An den folgenden Nachmittagen besuchte sie ihn wieder. Sie blieb nie über Nacht, weil ihre Eltern das Hotel bezahlt hätten, wie sie zur Erklärung sagte. Nach einer Woche träger Liebe flog die kleine Japanerin um die halbe Welt in ihr Land zurück, schickte ihm einen kurzen, fehlerhaften, nichts sagenden Brief, den er nicht beantwortete. Die Begegnung behielt Willem als einen der wenigen glücklichen Momente seines Lebens in Erinnerung. Aber auf eine Wiederholung legte Willem es nicht an. Selbst eine taubstumme Japanerin hätte ihn im Augenblick überfordert.
    Plötzlich hielt er diese bedrückende Stille in dem Café nicht mehr aus. Er ertrug es nicht länger, auf sich selbst zurückgeworfen zu sein. Er flüchtete hinaus, lief über den sanft ansteigenden Rasen nach Nordwesten, auf Marble Arch zu, durchquerte die nach Urin stinkende Fußgängerunterführung und tauchte am Ausgang zur Oxford Street wieder auf. Den Lärm und die Hektik dort, die er sonst verabscheute, empfand er als Befreiung.
    Schwere Doppeldeckerbusse donnerten vorbei. Menschen hetzten getrieben durch die Straße. Die Anstrengungen des Großstadtlebens hatten in den Gesichtern ihre Spuren hinterlassen, einige gezeichnet. Gelbliche, müde, abgekämpfte Gesichter. Auch in der Oxford Street gab es hübsche Mädchen. Doch längst nicht so viele Schönheiten wie in der King’s Road. Sie sahen eher billig aus, entsprechend dem Warenangebot der Läden. Willem sinnierte über den Zusammenhang von Wohlstand und Schönheit, ohne Ergebnis.
    Die Visa-Card Robin Clarkes fiel ihm wieder ein. Er fühlte sie in seiner Tasche. Sollte er es wagen? Wenn er die Karte benutzte, müsste es für etwas Außergewöhnliches, Einzigartiges sein. Nichts davon war

Weitere Kostenlose Bücher