Sein Blut soll fließen: Thriller (German Edition)
einfach nur darin, sie langsamer laufen zu lassen.
Reeve stand auf und ließ sich die Wanne einlaufen. Der Wasserdruck war niedrig. Vermutlich waren gerade ein Dutzend Zimmermädchen alle gleichzeitig dabei, Badewannen zu schrubben und auszuspülen, die Zimmer für neue Gäste zu richten – Gäste, die kamen und gingen und nichts zurückließen.
Er erinnerte sich an etwas, das er in einem seiner Bücher gelesen hatte: sinngemäß, dass das Leben ein Fluss sei, und sein Wasser für die Menschen, die es durchwateten, niemals dasselbe. Da er sich noch daran erinnerte, musste es ihn damals beeindruckt haben. Jetzt war er sich nicht mehr so sicher. Er musterte sein Gesicht im Badezimmerspiegel. Es wurde zunehmend hässlicher, schien angespannt und finster. So hatte es bei den Special Forces ausgesehen: ein Gesicht, das man sich für die Begegnung mit dem Feind zurechtlegte, ein Ausdruck des permanenten Grolls. Mit der Zeit hatte er ihn verloren, je mehr er seinen Muskeln gestattet hatte, sich zu entspannen, aber jetzt kam der Ausdruck zurück. Ihm wurde außerdem bewusst, dass er auch seine Unterleibsmuskeln anspannte, als bereitete er sich auf einen Fausthieb in den Magen vor. Und sein ganzer Körper kribbelte – nicht nur vom Jetlag; die Sinne fuhren hoch. Man hätte auch von einem sechsten Sinn sprechen können, bloß war es mehr als nur einer. Einer sagte einem, dass man beobachtet wurde oder dass jemand, den man nicht sehen konnte, in der Nähe war. Ein anderer sagte einem, ob man nach links oder nach rechts laufen musste, um feindlichem Beschuss zu entkommen.
Manche seiner Kameraden bei den Special Forces hatten nicht an »die Sinne« geglaubt. Sie hatten es ausschließlich dem Glück zugeschrieben, wenn jemand aus einer brenzligen Situation lebendig herauskam. Für Reeve war es Instinkt: Es ging dabei darum, einen Teil seines Gehirns aufzubrechen, der normalerweise verschlossen und verriegelt war. Er glaubte, dass Nietzsche mit seinem »Übermenschen« vielleicht etwas in der Art gemeint hatte. Man musste sich aufschließen, das verborgene Potenzial in sich finden. Und vor allem musste man gefährlich leben .
»Wie mach ich mich, Alter?«, sagte Reeve laut, während er sich in die Wanne gleiten ließ.
In Queens galt eine spezielle Abwandlung des kartesianischen Cogito : »Ich starre, also bin ich.«
Trotz seiner ziemlich ungewaschenen nichttouristischen Klamotten konnte sich Reeve über mangelndes Angestarrtwerden nicht beklagen. Sein Stadtplan von Manhattan hätte ihm hier nicht weitergeholfen. Fremden empfahl man dringend, um diesen Stadtteil einen weiten Bogen zu machen. Auch den Taxifahrer hatte er erst überreden müssen; das gelbe Taxi hatte mit laufendem Motor vor dem Hotel gestanden und auf eine Fahrt rauf zum Central Park gewartet, oder, mit etwas Glück, raus zum JFK, aber als Reeve »Queens« gesagt hatte, hatte ihn der Mann so angeschaut, als hätte er gerade verlangt, nach Detroit gefahren zu werden.
»Queens?«, hatte der Mann gesagt. Er sah wie ein Puertoricaner aus; aus seiner schmierigen Baseballkappe quoll eine dicke Strähne von schwarzem lockigem Haar. »Queens?«
»Queens.«
Der Fahrer hatte langsam den Kopf geschüttelt. »Ist nicht drin.«
»Klar ist es drin, wir müssen uns nur über den Fahrpreis unterhalten.«
Also hatten sie sich über den Fahrpreis unterhalten.
Reeve hatte sich eingehend mit den Gelben Seiten beschäftigt, und als er das, was er suchte, in Manhattan nicht finden konnte, war er auf die äußeren Bezirke ausgewichen: die Bronx und Queens. Der dritte Laden, den er angerufen hatte, schien genau das Richtige zu sein, also hatte er sich eine Wegbeschreibung geben lassen und sie auf Hotel-Briefpapier notiert.
Jetzt saß er mit dem Blatt im Fond des Taxis und hörte sich den heftigen, wütenden Dialog im Funkgerät an. Wer immer in der Taxizentrale am Mikrofon saß, war am Explodieren. Er war noch immer am Explodieren, als das Taxi auf die Queensboro Bridge fuhr.
Der Fahrer drehte sich wieder zu ihm herum. »Letzte Chance, Mann.« Er sprach mit einem ebenso undefinierbaren wie unverständlichen Akzent; Reeve musste sich jedenfalls alle Mühe geben, um ihn zu verstehen.
»Nein«, sagte er, »weiterfahren.« Er wiederholte die Worte auf Spanisch, was den Fahrer aber nicht weiter beeindruckte. Er sprach gerade mit der Zentrale, das Mikro dicht vor dem Mund.
Die Straße, nach der sie suchten, zu der Reeve den Fahrer dirigierte, war nicht allzu tief im Herzen
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