Sein Blut soll fließen: Thriller (German Edition)
Uhrzeit nicht allzu viel los.
Er fühlte sich so, wie er sich zu Beginn zahlloser Einsätze gefühlt hatte: kein bisschen ängstlich, aber aufgeregt, aufgeladen, zu allem bereit. Jetzt erinnerte er sich, warum er so gern bei den Special Forces gewesen war: Sein Lebenszweck waren Gefahr und Adrenalin gewesen, Leben und Tod. In solchen Momenten hatte alles eine fast erschreckende Klarheit: ein zitterndes Scheibchen Mond im ufernahen Wasser; das feuchte Weiß von Duharts Augen und die Falten in seinem Gesicht, als er ihm zuzwinkerte; das anschmiegsame Gefühl des Plastikpaddels, mit den Aussparungen für seine vier Finger. Er watete ins knöcheltiefe Wasser und stieg lautlos in das Schlauchboot. Duhart winkte ihm zum Abschied nach. Der Privatdetektiv hatte seine Anweisungen. Er sollte an irgendeinen Ort gehen, wo man ihn kannte – in eine Bar, wo auch immer. Auf jeden Fall nicht zu nah am Fluss. Er sollte dort bleiben und dafür sorgen, dass man ihn bemerkte. So lauteten seine Instruktionen. Sollte irgendetwas schieflaufen, wollte Reeve nicht, dass Duhart etwas abbekam.
Was nicht bedeutete, dass Duhart nicht zurückkommen – oder genauer gesagt, in drei Stunden mit dem Wagen vor dem Tor von Allerdyce’ Anwesen stehen – sollte …
Er paddelte stromaufwärts entlang des gegenüberliegenden, unbebauten Ufers. Im Dunkeln war es schwierig, ein Anwesen von dem anderen zu unterscheiden; alle schienen den gleichen riesigen Garten, den gleichen Bootssteg, sogar den gleichen Aussichtspavillon zu haben. Er paddelte weiter, bis die Häuser aufhörten, zählte dann zurück bis zu demjenigen, das seiner Überzeugung nach Allerdyce gehörte. In den Häusern links und rechts davon schien kein Licht zu brennen. Reeve hielt nach Booten Ausschau. Eines tuckerte stromaufwärts. Er blieb dicht am Ufer und verließ sich auf die Dunkelheit. Auf dem Deck des Bootes saßen ein paar Leute, aber sie konnten ihn nicht sehen.
Schließlich, als alles wieder ruhig war, paddelte er quer über den Fluss, bis er das Grundstück zur Rechten von Allerdyce’ Haus erreicht hatte. Er stieg aus, öffnete das Ventil und ließ das erschlaffende Schlauchboot, vom Paddel gefolgt, mit der Strömung davontreiben. Er stand vor der Mauer, die die beiden Anwesen voneinander trennte. Es war eine bemooste, mit Kletterpflanzen überwachsene hohe Steinmauer. Reeve zog sich daran hoch und spähte in die Dunkelheit. In Allerdyce’ Haus brannten Lichter. Er hörte ein fernes Husten und sah einen Rauchfaden aus dem Pavillon aufsteigen. Er wartete und sah dann einen roten Glutpunkt, als der Wachmann an seiner Zigarette sog.
Reeve ließ sich wieder in den Nachbarsgarten hinunter und holte ein Päckchen aus der Innentasche seiner Jacke; es enthielt zwei Steaks, die er mit einigen in jeder Apotheke frei erhältlichen Medikamenten gewürzt hatte. Er warf beide Steaks über die Mauer und wartete wieder. Er war darauf gefasst, ziemlich lange warten zu müssen.
Tatsächlich brauchten die scharfen Nasen der Hunde kaum mehr als fünf Minuten, um die Leckerbissen zu orten. Reeve hörte lautes Kauen und Schmatzen. Menschliche Laute waren nicht zu hören, der andere Wachmann war nicht bei den Hunden. Sie durften sich auf dem ganzen Gelände frei bewegen. Das war erfreulich: Es bedeutete mit fast hundertprozentiger Sicherheit, dass die Bewegungsmelder und sonstigen Warneinrichtungen ausgeschaltet waren. Die Elektronik kam offenbar nur zum Einsatz, wenn die Hunde gerade nicht unterwegs waren. Die Fressgeräusche verstummten, Reeve hörte es kurz schnüffeln – die gierigen Tiere wollten mehr -, dann Stille. Er ließ noch fünf Minuten verstreichen, dann stemmte er sich über die Mauer und ließ sich in Jeffrey Allerdyce’ Garten hinuntergleiten. Von den Hunden war nichts zu sehen. Die Wirkung des Schlaftrunks hatte erst nach einer gewissen Zeit eingesetzt. Die Hunde waren inzwischen woanders. Reeve hoffte, dass sie irgendwo schliefen, wo sie nicht entdeckt werden konnten.
Er blieb dicht bei der Wand, so dass er sie im Rücken spürte, und näherte sich dem Pavillon. Die Wache saß von Reeve abgewandt, mit dem Gesicht zum Wasser. Reeve überquerte schnell und lautlos den teppichweichen Rasen. Er hielt den Dolch an der Scheide fest, holte aus und knallte der Wache den Knauf gegen die Schläfe. Der Mann war benommen, aber noch nicht bewusstlos. Er drehte sich halb um und öffnete schon den Mund, als Reeves Faust ihm voll ins Gesicht krachte. Der zweite Hieb legte ihn flach.
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