Sein Blut soll fließen: Thriller (German Edition)
was man eine exakte Wissenschaft nennen konnte. Ihm kam Nietzsches Frage in den Sinn: »Muß man ihnen erst die Ohren zerschlagen, dass sie lernen, mit den Augen zu hören?« Tja, vielleicht war er ja doch einer von Nietzsches Gentlemen …
Er brauchte ein paar Minuten, um alles bereit zu machen. Dann rief er McCluskey an.
»Hey, McCluskey«, sagte er.
»Sie Hurensohn, wo haben Sie gesteckt? Ich hab stundenlang gewartet.«
»Tja, wenigstens waren Sie nicht allein.«
Pause. »Was meinen Sie damit?«
»Ich meine all Ihre Spielkameraden.«
Eine weitere Pause, dann ein Seufzer. »Okay, Gordon, ich geb’s zu – aber hören Sie, und jetzt spricht ein Freund zu Ihnen, Interpol hat Sie im Visier. Die Meldung kam nach unserem letzten Gespräch rein. Die französische Polizei möchte sich wegen ein paar Morden mit Ihnen unterhalten. Verdammt, als ich das gelesen habe, wusste ich nicht mehr, was ich denken sollte!«
»Nette Story, McCluskey.«
»Jetzt warten Sie...«
»Ich bin weg.«
Reeve ließ den Hörer aufs Bett fallen. Er hörte, wie McCluskey fragte, ob noch jemand da sei. Um es ihm leichter zu machen, stellte Reeve den Fernseher lauter. Es war der Shopping-Sender für Schlaflose. McCluskey würde einige Zeit brauchen, um den Anruf zurückzuverfolgen – wenn er erst mal begriffen hatte, dass die Verbindung noch stand. Zeit genug, um aus dem Hotel auszuchecken und sich ein neues zu suchen. Er nahm drei Kopien der Videoaufnahme mit und ließ nur die eine da.
Wenn McCluskey und Dulwater sich hinsetzten und gemeinsam das Video anschauten, konnten sie zu dem Schluss gelangen, dass es insgesamt besser sei, es zu vernichten. Beziehungsweise McCluskey würde vermutlich zu diesem Schluss gelangen, und wenn Dulwater nicht mitspielen wollte, würde er ihm drohen, Mr. Allerdyce ein paar interessante Fragen vorzulegen – etwa, wie es kam, dass Gordon Reeve aus Dulwaters Hotelzimmer angerufen hatte, und welche Rolle Dulwater bei der Videoaufzeichnung gespielt haben mochte …
Und deswegen dachte sich Reeve, dass er drei Kopien bräuchte. Eine für sich selbst, eine für Kosigin.
Und eine, nur damit Allerdyce wusste, wie das Spiel im Augenblick stand …
20
Reeve verließ die Stadt auf der I-5 in nördlicher Richtung, nachdem er eine »familiäre Krise« als Grund dafür angeführt hatte, dass er zu einer so ungewöhnlichen Uhrzeit aus dem Marriott ausziehen musste. Auf der Herfahrt von Los Angeles hatte er sich ein paar unscheinbare Motels an der Küstenstraße gemerkt, die parallel zur Interstate verlief. Er behielt den Kilometerzähler im Auge und fuhr in der Nähe von Solana Beach von der Interstate runter. Er war jetzt gut dreißig Kilometer vom Marriott entfernt. Das Motel hatte ein rotes Neonschild, das laut vor sich hin summte. Das Empfangsbüro war verrammelt, aber dafür gab es ein Schild, das seine Aufmerksamkeit auf den Automaten neben der Tür lenkte. Er sah aus wie ein Bankautomat, tatsächlich war er aber eine automatisierte Motel-Rezeption. Reeve steckte seine Kreditkarte in den entsprechenden Schlitz und befolgte die Anweisungen auf dem Monitor. Der Schlüssel, der aus einem weiteren Schlitz auftauchte, war eine schmale Plastikkarte mit eingestanzten Löchern. Der Bildschirm leuchtete noch ein letztes Mal auf und wünschte ihm eine angenehme Nachtruhe. Reeve wünschte dem Automaten gleichfalls eine gute Nacht.
Die Zimmer lagen auf der Rückseite des Gebäudes. Reeve fuhr langsam daran vorbei, bis im Licht der Scheinwerfer seine Zimmernummer erschien. Von den rund zwanzig Parkbuchten waren lediglich vier besetzt. Reeve vermutete, dass die Geschäfte im Ocean Palms Resort Beach Motel nicht eben glänzend liefen. Er vermutete außerdem, dass »Resort« und »Beach« die Realität nicht hundertprozentig trafen; das Motel war schlicht eine Not-Absteige für übermüdete Autofahrer. Die aus den Fünfzigern stammende Betonblock-Konstruktion sprach Bände. Das Gebäude lag in einer Schlucht, und näher an der I-5 als an irgendeinem Strand. Dementsprechend dünn waren auch Palmen oder gar Ozeane gesät …
Aber die Schlösser an den Türen waren neu. Reeve steckte seine Karte in den Schlitz, drehte den Knauf herum und zog die Karte wieder heraus. Er ließ seine Reisetasche auf einen Stuhl fallen. So müde er auch war, inspizierte er als Erstes das Zimmer – es gab nur die eine Tür und ein Fenster. Er schaltete die Klimaanlage ein und war nicht überrascht, festzustellen, dass sie nicht funktionierte. Auch
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