Sein Blut soll fließen: Thriller (German Edition)
Position gewesen war – der Heli war eine unmissverständliche Einladung an alle.
Er hörte einen hochtourig heulenden Motor: ein Jeep, wahrscheinlich auf der Piste, die er erst vor ein paar Minuten überquert hatte. Wenn er Männer absetzte, dann hatte Reeve lediglich die paar Minuten Vorsprung vor ihnen. Keine Zeit, stehen zu bleiben, keine Zeit, sein Tempo zu verlangsamen. Keine Zeit, seine Schritte zu zählen, wie er es eigentlich hätte tun sollen, um – wenn es irgendwann doch möglich gewesen wäre, stehen zu bleiben und sich zu orientieren – sich ungefähr ausrechnen zu können, wie weit er überhaupt gelaufen war. Man zählte die Schritte, die man machte, und multiplizierte sie mit der Schrittlänge. Es funktionierte im Training, wenn die einem das im Unterrichtsraum erklärten …
Aber hier draußen war es lediglich ein weiteres Stück Ballast, das man abwerfen musste.
Er hatte keine Ahnung, wo Jay war. Zuletzt hatte er ihn gesehen, wie er sich förmlich in diesem dichten weißen Rauch aufgelöst hatte, wie ein Zauberkünstler, der auf der Bühne verschwindet. Zauberkünstler hatten immer irgendwo eine Falltür, und genau danach suchte Reeve jetzt – nach einer Tür, durch die er ebenfalls hätte verschwinden können. Hinter ihm ertönte eine kleine Explosion. Vielleicht war es noch immer der Hubschrauber, vielleicht Jay, der eine weitere Granate abschoss, oder der Feind, der das Bombardement wiederaufnahm.
Was immer es war, es lag weit genug hinter ihm, um ihn nicht sonderlich zu beunruhigen. Er konnte den Jeep nicht mehr hören. Er fragte sich, ob er stehengeblieben war. Er meinte, weitere Fahrzeuge in der Ferne zu hören. Das Brummen der Motoren hatte genau die richtige Tonlage, um durch seine tauben Trommelfelle dringen zu können. Schwere Motoren... doch wohl keine Panzer? Mannschaftstransportwagen? Er konnte keine weiteren Suchscheinwerfer sehen. Es war nur der eine Heli gewesen. Vielleicht forderten sie gerade einen weiteren vom Luftstützpunkt an, aber wenn die Crew gescheit war, würde sie sich, nachdem sie vom Schicksal ihrer Kameraden gehört hatte, nicht übermäßig beeilen.
Reeve dachte über alles Mögliche nach, versuchte, eine gewisse Ordnung in das Chaos in seinem Kopf zu bringen. Vor allen Dingen versuchte er, an etwas Anderes zu denken. Während eines zermürbenden Geländemarsches musste man die Wirklichkeit transzendieren. Das war genau das Wort, das sein erster Ausbilder benutzt hatte: transzendieren . Ein Möchtegern-Witzbold hatte gefragt, ob er meinte, so wie bei der transzendentalen Meditation.
»In gewisser Weise«, hatte der Ausbilder vollkommen ernst geantwortet.
Zum ersten Mal bekam Reeve jetzt eine Ahnung davon, dass, ein guter Soldat zu sein, mehr eine Frage der Geisteshaltung, der inneren Einstellung war, als von irgendetwas anderem. Man konnte ausdauernd sein, stark, schnelle Reflexe haben, sämtliche Techniken beherrschen, aber damit war es noch nicht getan. Es ging um eine geistige Dimension, und das war vielleicht auch, was der Ausbilder gemeint hatte.
Plötzlich erreichte er die Hauptstraße, die von Rio Grande, an der Küste, geradewegs bis in chilenisches Territorium führte. Er lag auf dem Bauch und sah zu, wie Militärlaster vorüberdonnerten, und als die Straße endlich frei war, huschte er wie ein Nachttier über die Fahrbahn.
Sein nächstes Hindernis war nicht weit entfernt, und es stellte ihn vor eine Entscheidung: Er konnte den Rio Grande durchschwimmen – was bedeutet hätte, noch mehr von seiner Ausrüstung, vielleicht sogar auch sein Gewehr, aufzugeben -, oder er konnte ihn trockenen Fußes überqueren. Laut seiner Karte gab es nicht ganz einen Kilometer stromabwärts eine Brücke. Reeve marschierte los und fragte sich, ob sie bewacht sein würde. Die Argentinier wussten jetzt schon seit einer ganzen Weile, dass feindliche Kräfte unterwegs waren, also konnte die Brücke durchaus bemannt sein. Aber würden sie andererseits damit rechnen, dass Reeve und Jay überhaupt so weit kämen?
Reeves Frage war schon bald beantwortet: Eine zweiköpfige Infanteriepatrouille bewachte die zweispurige Fahrbahn. Die Soldaten standen, von den Scheinwerfern ihres Jeeps beleuchtet, auf der Mitte der Brücke. So spät nachts kamen keine Fahrzeuge, die sie hätten anhalten und kontrollieren müssen, also plauderten sie und rauchten. Sie schauten in die Ferne, in die Richtung, aus der Reeve gerade gekommen war. Sie hatten die Explosionen gehört, den Rauch und die
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