Sein Blut soll fließen: Thriller (German Edition)
Flammen gesehen. Sie waren froh, sich in sicherer Entfernung zu den Ereignissen zu befinden.
Reeve warf einen Blick auf den dunklen, breiten Fluss, das kalt aussehende Wasser. Er warf einen Blick auf die Verstrebungen der Brücke und traf seine Entscheidung. Er kletterte hinunter zum Wasser und begann, den Fluss an der Unterseite der Brücke zu überqueren. Es war eine Eisenkonstruktion aus gekreuzten Sparren, die einen gestreckten Bogen über dem Wasser bildeten. Reeve schlang sein Gewehr über die Schulter, griff nach den ersten zwei Sparren und zog sich hoch. Er kletterte langsam, lautlos – vom Land aus nicht zu sehen, wohl aber vom Wasser aus, sollte ein Boot mit einem Suchscheinwerfer angetuckert kommen – umso besser. Solange es möglich war, nahm er Füße und Knie zu Hilfe, aber als er höher kam, hing er nur noch an den Händen über dem Wasser, während seine Beine nutzlos herunterbaumelten. Er dachte an Übungen zurück, bei denen er sich auf diese Weise über eine Wasseroder Schlammfläche hinweg hatte hangeln müssen – aber nie über eine so weite Strecke, nie unter solchen Bedingungen. Seine Brustmuskeln schmerzten, und das rostige Metall schnitt in seine Fingergelenke. Er hatte das Gefühl, seine Arme würden sich jeden Augenblick aus den Schultern auskugeln. Schweiß brannte ihm in den Augen. Über sich hörte er die Soldaten lachen. Er hätte sich auf die Brücke hochstemmen und das Feuer auf die beiden eröffnen können, dann ihren Jeep stehlen oder die Brücke zu Fuß überqueren. Aber auf diese Weise hätte er Spuren hinterlassen, und das wollte er nicht – der Feind durfte nicht wissen, welchen Weg er genommen hatte. Also hangelte er sich weiter, immer die eine, dann die andere Hand, aufs Äußerste konzentriert, mit zugekniffenen Augen und knirschenden Zähnen. Blut rann ihm über die Handgelenke. Er glaubte nicht, dass er es schaffen würde. Er fing an, mit der Vorstellung zu spielen, loszulassen, sich ins Wasser fallen, von der Strömung bis hinunter zur Flussmündung tragen zu lassen. Er schüttelte sich die Idee aus dem Kopf. Man hätte ihn aufklatschen hören; und selbst wenn nicht – wie wären schon seine Überlebenschancen gewesen? Er musste sich weiterhangeln.
Endlich fand er mit den Füßen wieder Halt. Er hatte das jenseitige Ende des Brückenbogens erreicht, wo das eiserne Gitterwerk anfing, sich zum Flussufer hinunterzuwölben. Mit einem lautlosen »Herrgott« verlagerte er sein Gewicht auf Füße und Beine und entlastete ein wenig seine zerfetzten Handflächen. Erschöpft begann er den Abstieg, und als er endlich festen Boden erreicht hatte, ließ er sich auf Hände und Knie fallen und blieb so, keuchend und stöhnend, die Stirn gegen die feuchte Erde gepresst. Er gönnte sich dreißig kostbare Sekunden, um wieder zu Atem zu kommen. Er drückte sich als behelfsmäßige Kompresse ein Büschel Grashalme gegen Handflächen und Finger.
Dann stand er auf und entfernte sich vom Wasser in nordöstlicher Richtung. Er durfte nicht dem Lauf des Flusses folgen: Zum einen führte er zurück zum Flugplatz; zum anderen wäre in der Nähe des Wassers die Gefahr größer gewesen, Zivilisten zu treffen. Auf einen Fischer oder Angler zu stoßen, rangierte nicht gerade oben auf seiner Wunschliste.
Reeve lief so, wie man es ihm beigebracht hatte: nicht schnell, weil ein Sprint zu viele Kraftreserven in zu kurzer Zeit verbrauchte – es war eher ein ruhiger, gleichmäßiger Dauerlauf, dem Joggen nicht unähnlich. Das Geheimnis dabei war, nicht stehen zu bleiben, nicht innezuhalten – und das war das Schwierigste überhaupt. Es war auch schon in den walisischen Brecon Beacons schwierig gewesen, während der zermürbenden Geländeläufe der Grundausbildung. Reeve war an Männern vorbeigetrabt, die er für stärker und fitter als sich selbst gehalten hatte. Sie hatten vornübergebeugt dagestanden, die Hände auf den Knien, und auf den Boden gekotzt. Sie hatten nicht gewagt, sich zu setzen – bei dem Gewicht, das sie auf dem Rücken trugen, wären sie nie wieder hochgekommen. Und wenn sie zu lang stehen blieben, würden ihre Muskeln anfangen, steif zu werden. Das war etwas, das auch normale Jogger wussten. Man sah es, wenn sie an einer Ampel oder einer Kreuzung warteten: Da joggten sie immer weiter auf der Stelle.
Niemals stehen bleiben, niemals innehalten.
Reeve trabte weiter.
Das Gelände sah bald auch nicht viel anders aus als auf der anderen Seite des Flusses – steile Geröllhänge
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