Sein Blut soll fließen: Thriller (German Edition)
genaue Gegenteil von Nietzsches »Willen zur Macht«. Evolution kam nach Kropotkins Auffassung nicht durch Konkurrenzkampf, nicht durch das Überleben des tauglichsten Individuums zustande, sondern durch Kooperation. Eine Spezies, deren Individuen kooperierten, würde kollektiv gedeihen und immer stärker werden. Nietzsche dagegen sah allenthalben Konkurrenzkampf und sprach sich für Selbstständigkeit und Selbstbezogenheit aus. Reeve konnte beiden Standpunkten etwas abgewinnen. Tatsächlich stellten sie in seinen Augen keine Gegensätze dar, sondern die zwei Seiten einer Gleichung. Reeve hatte für Regierungen, für Bürokratie wenig übrig, aber er wusste, dass das Individuum nur bis zu einem gewissen Punkt gehen, nur ein bestimmtes Maß ertragen konnte. Isolation konnte manchmal ganz gut sein, aber wenn man ein Problem hatte, war es klug, Verbündete zu finden. Der Krieg brachte die unwahrscheinlichsten Bündnisse zustande, während der Frieden durchaus Gräben aufreißen konnte.
Nietzsche konnte natürlich niemanden für seine Philosophie gewinnen – wenn man von ein, zwei Diktatoren absah, die sich die Freiheit genommen hatten, ihn entsprechend misszuverstehen. Und die Anarchisten … nun, eines der Dinge, die Reeve an den Anarchisten besonders interessant fand, war die Tatsache, dass sie eigentlich von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen waren. Um zu wachsen und das öffentliche Bewusstsein beeinflussen zu können, hätte sich ihre Bewegung organisieren, zu einer starken politischen Kraft entwickeln müssen – was wiederum bedeutet hätte, hierarchische Strukturen und Entscheidungsträger zu akzeptieren. Jeder, vom Jungen auf dem Bolzplatz bis hin zum Aufsichtsratsmitglied, wusste, dass gemeinsam gefällte Entscheidungen nur durch Kompromisse zustande kamen. Der Anarchismus hatte mit Kompromissen nichts im Sinn. Das den Anarchisten eigentümliche grundlegende Misstrauen gegen starre Organisationen führte notwendigerweise zu Spaltungen und immer weiteren Aufsplitterungen ihrer Gruppierungen, bis zuletzt nur noch das Individuum übrig blieb, und manche dieser Individuen gelangten zu dem Schluss, dass der einzige ihnen verbleibende Weg zur Macht die Gewalt sei. Joseph Conrads Bild vom Anarchisten mit der Bombe in der Tasche war gar nicht so wirklichkeitsfern.
Und was war mit Nietzsche? Reeve war – als SAS-Mann – einer von »Nietzsches Gentlemen« gewesen. Nietzsche hatte sich auf Descartes und andere bezogen – Männer, die nach Gewissheit und Kontrolle strebten, die jeglichen Zufall ausschließen wollten. Aber wenn er den Übermenschen forderte, verlangte Nietzsche vom Menschen auch, dass er gefährlich lebe . Reeve hatte das Gefühl, dass er, wenn schon kein anderes, so doch zumindest dieses Kriterium erfüllte. Er lebte in der Tat gefährlich. Die Frage war nur, ob im Weiteren nicht etwas »gegenseitige Hilfe« erforderlich werden würde …
Er saß auf dem Hang eines Hügels; es war nichts zu hören außer dem Wind, dem fernen Blöken eines Schafes und seinem eigenen Atem. Er ruhte sich nach dem langen Marsch aus. Er hatte Joan gesagt, er müsse einen klaren Kopf bekommen. Allan war bei einem Freund, würde aber rechtzeitig zum Abendessen wieder zu Hause sein. Reeve würde bis dahin auch wieder zurück sein. Joan hatte ihm angeboten, ihn zu begleiten – was er mit einem Kopfschütteln abgelehnt hatte. Er hatte ihr über die Wange gestrichen, aber sie hatte seine Hand weggeschlagen.
»Ich bin in ein paar Stunden zurück.«
»Du bist nie da«, hatte sie geklagt. »Und selbst, wenn du mal da bist, bist du nicht wirklich da.«
Sie hatte nicht Unrecht, und er hatte ihr nicht widersprochen. Er hatte sich lediglich die Stiefel zugeschnürt und war aufgebrochen. Hinauf in die Hügel.
Es war Sonntag. Eine ganze Woche war vergangen, seitdem er den Anruf erhalten und erfahren hatte, dass sich Jim das Leben genommen hatte. Joan wusste, dass es etwas gab, das er ihr verschwieg, etwas, das er für sich behielt. Sie wusste, dass es nicht nur Trauer war.
Reeve stand auf. Als er den steilen Hang hinuntersah, verspürte er kurzzeitig Angst. Es hatte diesmal nichts mit dem »Abgrund« zu tun; lediglich damit, dass er keinen eigentlichen Plan hatte, und ohne Plan war immer die Gefahr der Übereilung, der Fehleinschätzung gegeben. Jetzt galt es, gründlich zu planen und sich vorzubereiten. Er war eine Zeitlang im Dunkeln getappt, hatte sich zögernd vorangetastet. Jetzt glaubte er zwar fast alles zu
Weitere Kostenlose Bücher