Sein Blut soll fließen: Thriller (German Edition)
Chemie-Multis. Könnte jeder von ihnen gewesen sein, vielleicht auch jemand ganz anders. Und deswegen« – er seufzte und steckte die Hände tiefer in die Taschen seiner Barbour-Jacke – »bleibe ich seitdem in Bewegung.«
»Ein bewegliches Ziel ist am schwersten zu treffen«, bestätigte Reeve.
»Sprechen Sie aus Erfahrung?«
»Aus beruflicher«, sagte Reeve, während der Zug einfuhr.
Wieder in London, kehrte Reeve zu Jims Wohnung zurück. Fliss hatte ihm einen Zettel hinterlassen, auf dem sie sich und/oder ihn fragte, ob er endgültig weg sei. »Vielleicht diesmal«, kritzelte er darunter und legte das Blatt wieder auf den Tisch. Er musste sein Gepäck und sein Auto holen und sich dann auf den Weg nach Haus machen. Aber zuerst wollte er noch etwas überprüfen. Er suchte das Blatt von Jims Notizen heraus, das mit »MV« überschrieben war. Auf der Rückseite standen vier zweistellige Zahlen. Er hatte zunächst vermutet, sie seien die Kombination zu einem Safe, aber jetzt wusste er es besser. Er fand in der Küchenschublade einen Schraubenzieher und nahm das Telefon samt Hörer auseinander. Als er keine Wanzen finden konnte, drehte er die Schrauben wieder fest und legte den Schraubenzieher in die Schublade zurück. Er schlug im Telefonbuch die Vorwahl für Frankreich nach und wählte. Ein langer einzelner Ton verriet ihm, dass er einen französischen Anschluss erreicht hatte.
Ein Anrufbeantworter; eine Frauenstimme haspelte irgendetwas herunter. Reeve hinterließ eine Nachricht in seinem eingerosteten Französisch und gab seine Nummer in Schottland an. Von Jims Schicksal sagte er nichts. Lediglich, dass er sein Bruder war. Das nannte man »jemanden schonend auf schlechte Nachrichten vorbereiten«. Er setzte sich hin und dachte über das nach, was Josh Vincent ihm erzählt hatte. Irgendetwas hatte Reeve die ganze Zeit gesagt, dass es unmöglich nur um Rinder gehen konnte. Es wäre lachhaft, unglaubwürdig gewesen. Aber Josh Vincent hatte es geschafft, es sowohl glaubwürdig als auch angsteinflößend klingen zu lassen, weil es jeden auf der Welt betraf – jeden, der essen musste. Trotzdem glaubte Reeve nach wie vor nicht, dass es nur um Rinder oder Pestizide oder Vertuschungen ging. Da steckte mehr dahinter. Er spürte es in den Knochen.
Er nahm wieder den Hörer ab und rief diesmal Joan an, um seine Rückkehr anzukündigen. Dann sah er sich noch einmal in der ganzen Wohnung um und schloss die Tür hinter sich ab.
Draußen überprüfte ein Techniker gerade den Verteilerkasten. Der Mann sah Reeve nach, holte dann die Kassette aus dem Recorder und ersetzte sie durch eine neue. Wieder in seinem Transporter, spulte er das Band zurück und drückte auf Wiedergabe. Eine dreizehnstellige Nummer, gefolgt von einer Französisch sprechenden Frauenstimme. Er schloss einen Digitaldecoder an das Kassettengerät an, spulte zurück und drückte noch einmal auf Wiedergabe. Diesmal erschien auf dem Display des Decoders bei jedem Piepton der gewählten Nummer die entsprechende Ziffer. Der Techniker notierte sich die Nummer und griff nach seinem Handy.
Vierter Teil
Gefährlich leben
11
Anarchismus war Gordon Reeves Steckenpferd geworden, weil er die Denkweise von Terroristen verstehen musste. Er hatte im SAS bei der Antiterrorstaffel gedient. Die Einheit hatte ihn gern aufgenommen – zwar gab es einige, die sich nach der Grund- und Kampfausbildung auf Sprachen spezialisiert hatte, aber er war der Einzige, der so viele beherrschte.
»Einschließlich Schottisch«, hatte ein Witzbold gemeint. »Könnte sich als nützlich erweisen, wenn die Tartan Army wieder aufmüpfig werden sollte.«
»Gälisch kann ich auch«, hatte Reeve mit einem Lächeln gekontert.
Selbst nach seinem Ausscheiden aus dem SAS hatte der Anarchismus mit seinen Wahrheiten und seinen Paradoxa nicht aufgehört, ihn zu faszinieren. Von seinem griechischen Ursprung her bedeutete das Wort Anarchie »Herrschaftslosigkeit«. 1968 hatten die Studenten in Paris »Verbieten verboten« an die Hauswände gesprüht. Anarchisten, wahre Anarchisten, wollten eine Gesellschaft ohne Regierung und sprachen sich, statt für die Herrschaft eines gewählten Gremiums, für freiwillige Organisation aus. Der echte anarchistische Standard-Witz lautete: »Es ist egal, wen du wählst – an die Macht kommt immer die Regierung.«
Reeve spielte gern die anarchistischen Denker gegen Nietzsche aus. Kropotkin etwa forderte mit seiner Theorie der »gegenseitigen Hilfe« das
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