Sein Blut soll fließen: Thriller (German Edition)
bildete er sich nur ein; es hätte auch ein anderes Lied sein können, oder einfach nur eine zufällige Tonfolge.
Er überlegte kurz, ob er den Wald nach Marie absuchen sollte. Vielleicht war sie noch am Leben, vielleicht hatten sie sie mitgenommen. Oder sie lag irgendwo mausetot zwischen den Bäumen. So oder so bestand keine Hoffnung, ihr helfen zu können. Also schlug er die entgegengesetzte Richtung ein, bis er seine Reisetasche wiederfand. Diesmal hatte er allerdings einen Orientierungspunkt. Die Leiche mit der zerfetzten Kehle lag noch immer da wie ein nasser Sack.
Row, row, row your boat . Er hasste dieses Lied, und zwar mit gutem Grund.
Dann erstarrte er, als er sich an die Szene vor dem Krematorium in San Diego erinnerte: die Wagen, die zur nächsten Trauerfeier vorfuhren, und ein Gesicht, das sich von ihm abwandte, das Gesicht – wie er gemeint hatte – eines Geistes.
Jay.
Es konnte unmöglich Jay sein. Unmöglich. Jay war tot. Jay lebte und atmete nirgendwo mehr auf dieser Welt.
Es war Jay. Das war, so irrsinnig es auch erschien, die einzige Möglichkeit, die einen Sinn ergab.
Es war Jay.
Reeve zitterte wieder am ganzen Körper, als er zum Haus zurückging. Auf dem Boden, vor dem Fenster, erkaltete ein menschlicher Körper, aber von Foucault war keine Spur zu sehen. Reeve schaute in Marie Villambards Xantia und sah, dass der Zündschlüssel steckte. Mit Autodieben hatte man hier wahrscheinlich nie Probleme gehabt. Ebenso wenig mit Söldnern und Mördern – bis heute Nacht. Er stieg ein und schloss die Tür. Er zündete gerade, als eine riesige blutbespritzte Gestalt, das Maul schäumend von rosigem Geifer, knurrend und belfernd auf die Motorhaube sprang.
»Auf den Geschmack gekommen, was?«, sagte Reeve und ließ den Motor an, ohne sich weiter um den Hund zu kümmern. Er gab Vollgas, ließ die Kupplung kommen und schleuderte Foucault zu Boden. Er sah in den Rückspiegel, aber der Hund verfolgte ihn nicht. Er schüttelte sich bloß und trottete dann zum Fenster und zu den Resten seines Abendessens zurück.
Reeve manövrierte den Citroën vorsichtig an den zwei schwelenden Autowracks vorbei. Er nahm mit dem Xantia einiges an Rinde und blasenschlagendem Lack mit, schaffte es aber, sich vorbeizuquetschen und wieder auf die Fahrbahn zu gelangen. Er gestattete sich ein kurzes kaltes Lächeln. Beim SAS hatte er gelernt, niemals Spuren zu hinterlassen. Bei einem Einsatz hinter den feindlichen Linien kackte man sogar in Plastiktüten und nahm sie mit. Man ließ nichts zurück. Tja, diesmal hinterließ er einiges: mindestens zwei Leichen und einen ausgebrannten Landrover mit britischem Kennzeichen. Irgendwo würde er außerdem auch ein gestohlenes Auto mit blutverschmiertem Lenkrad stehenlassen. Und das, hatte er den Eindruck, würden noch seine geringsten Probleme sein.
Die allergeringsten Probleme.
Er fuhr in nördlicher Richtung, fort von einer Hölle, die ihm mit Sicherheit folgen würde.
Seine Arme und Schultern fingen an, weh zu tun, und ihm wurde bewusst, wie angespannt er war, über das Lenkrad gebeugt, als ob der Teufel in Person hinter ihm her wäre. Er hielt nur kurz, um zu tanken und sich ein paar Dosen koffeinhaltige Softdrinks zu kaufen, mit denen er weitere Koffeintabletten hinunterspülte. Er versuchte, sich normal zu benehmen. Dass er wie ein Tourist ausgesehen hätte, konnte man beim besten Willen nicht behaupten; also beschloss er, ein Vertreter zu sein, der, erschöpft und gestresst nach einer langen Geschäftsreise, heimische Gefilde ansteuerte. Er holte sogar einen Schlips aus seiner Reisetasche und band ihn sich lose um den Hals. Er betrachtete sich im Spiegel. Das würde reichen müssen. Natürlich kam hinzu, dass der Fahrer eines französischen Wagens Franzose sein sollte, also achtete er darauf, nach Möglichkeit mit niemandem ein Wort zu wechseln. An den Tankstellen begnügte er sich mit » bonsoir « und » merci «, ebenso an den verschiedenen péage -Stellen.
Nicht weit von Paris sah er die ersten Schilder für Orly. Er wusste, dass er die freie Auswahl hatte – Orly oder Charles de Gaulle. Er würde das Auto irgendwo stehen lassen. An den Häfen, nahm er an, würde man wahrscheinlich schon nach einem gestohlenen Xantia Ausschau halten. Und falls die Polizei die Häfen nicht überwachte – seine Gegner würden das mit Sicherheit tun. Dann würden sie auch die Flughäfen überwachen. Aber zu Fuß hatte er immer noch bessere Chancen, unerkannt zu bleiben.
In Orly
Weitere Kostenlose Bücher