Sein Bruder Kain
ohnehin nichts erfahren. Sie mag zwar Angst vor ihm haben, aber auf ihre Art liebt sie ihn auch.«
Man hörte das Klirren von Eimern auf der anderen Seite der Tür, aber niemand kam herein.
Monk beugte sich vor. »Woher wissen Sie das? Kennen Sie sie?« Es war töricht, daß dieser Gedanke ihn erregte, aber das hier war möglicherweise seine letzte Chance, wenn es ihm gelang, eine Möglichkeit zu finden, ihr Vertrauen zu gewinnen.
»Vielleicht hat auch sie nur Angst vor ihm.«
Hester lächelte. Das Lächeln ließ ihr Gesicht aufleuchten; es löschte die Müdigkeit nicht aus, überlagerte sie jedoch.
»Ich bezweifle nicht, daß sie Angst vor ihm hat«, gab sie ihm recht. »Und ich habe auch keinen Zweifel daran, daß sie bisweilen Grund dazu hat. Aber nach allem, was man so hört, liebt sie ihn auf ihre Weise wirklich und ist sogar ziemlich stolz auf ihn.«
»Stolz auf ihn! Weswegen denn in Gottes Namen? Der Mann ist in jeder Hinsicht ein Versager.« Sobald er das gesagt hatte, wünschte er, er hätte andere Worte gewählt. Es war eine Verurteilung, und plötzlich stand ihm wieder Calebs lebhaftes Gesicht mit seinem Zorn und seiner Intelligenz deutlich vor Augen. Er hätte so viel mehr sein können. Er hätte alles sein können, was Angus war. Statt dessen hatte Eifersucht seine Seele zerfressen, bis er in einem leidenschaftlichen Ausbruch von Haß einen Mord begangen und damit nicht nur seinen Bruder getötet, sondern auch alles zerstört hatte, was von ihm selbst übriggeblieben war. Monk verspürte Mitleid, aber auch Abscheu. Und doch kannte er dieses Gefühl des Hasses. Es war nur Gottes Gnade zu verdanken, daß er nicht selbst getötet hatte. War Angus möglicherweise ebenfalls ein Heuchler gewesen, ein charmanter, raubgieriger Lump, der zu klug war, um sich erwischen zu lassen?
Hester unterbrach seine Gedankengänge nicht. Er wünschte, sie hätte es getan. Statt dessen sah sie ihn einfach nur an und wartete. Sie kannte ihn gut. Er fühlte sich unbehaglich.
»Nun?« fragte er. »In welcher Hinsicht ist sie stolz auf ihn?«
»Weil niemand ihn betrügt oder ihn beleidigt«, antwortete sie, und ihrem Tonfall ließ sich entnehmen, daß sie nur das, was offensichtlich war, aussprach. »Er ist stark. Jeder kennt seinen Namen. Die Tatsache, daß er sie ausgewählt hat, machte sie zu einer wichtigen Persönlichkeit. Die Leute wagen es auch nicht mehr, sie zu übervorteilen.«
Er stand auf, wandte sich ab und schob seine Hände tief in die Taschen.
»Und das ist der Gipfel ihres Ehrgeizes? Dem meistgehaßten und gefürchteten Mann auf der Isle of Dogs zu gehören! Gott, was für ein Leben!« Er erinnerte sich an Selinas hübsches Gesicht mit dem großen Mund und den kühnen Augen, an ihren stolzen, wiegenden Gang. Sie hatte mehr verdient als das.
»Sie hat es besser als die meisten Frauen hier in der Gegend«, sagte Hester schnell. »Sie friert und hungert nicht, und niemand schubst sie herum.«
»Außer Caleb!« sagte er.
»Es ist immerhin etwas«, erwiderte sie ruhig. »Viele Menschen haben den Traum, dem Leben dort zu entrinnen, aber wenigen gelingt es, und wenn, schaffen sie es nicht weiter als bis zu den Bordellen oben in Haymarket oder Schlimmerem.«
Er zuckte zusammen, nicht über ihre Sprache, sondern über die Wahrheit, die sich hinter ihren Worten verbarg.
»Mary erzählt von einem hübschen Mädchen, dem die Flucht gelungen ist, eine Ginny Soundso«, fuhr sie fort, obwohl er nicht weiter interessiert daran war. »Dachte, sie hätte geheiratet; aber das war wohl mehr eine Hoffnung als eine Tatsache. Die feinen Herren heiraten keine Mädchen, die sie in Limehouse auflesen.«
Es war die grausame Realität, und wenn diese Worte aus seinem eigenen Mund gekommen wären, hätte er gesagt, es sei lediglich die Wahrheit. Aus ihrem Mund aber hatten sie eine Grobheit und Endgültigkeit, die ihn ärgerte.
»Wissen Sie überhaupt irgend etwas, was meinen Nachforschungen dienlich sein könnte?« fragte er schroff. »Daß Selina ihn nicht verraten wird, hilft mir nicht weiter.«
»Sie haben mich gefragt«, bemerkte sie. »Aber ich kann Ihnen die Namen einiger seiner Feinde nennen, die ihn nur allzugern vernichtet sehen würden, wenn sie selbst dabei keinen Schaden nähmen.«
»Ach?« Er konnte seine Erregung nicht verbergen. Es war ihm selbst nicht gelungen, etwas so Konkretes herauszufinden. Natürlich brachte man ihr hier ein Vertrauen entgegen, das er selbst niemals genießen würde. Sie lebte und
Weitere Kostenlose Bücher