Sein Bruder Kain
umdrehte, sah er Hester auf sich zukommen. Das Kerzenlicht, das strenge graue Kleid und ihr unattraktiv im Nacken zusammengebundenes Haar ließen sie noch magerer erscheinen als sonst. Ihre Augen wirkten größer, als er sie in Erinnerung hatte, und um ihren Mund lag ein weicherer Zug, als habe ihre Fähigkeit, Leidenschaft oder Schmerz zu empfinden, zugenommen. Er wünschte aus tiefstem Herzen, er wäre nicht gekommen. Er wollte sie nicht sehen, schon gar nicht hier. Enid Ravensbrook hatte sich in diesem Raum mit Typhus angesteckt und wäre beinahe gestorben. Dieser Gedanke quälte, überdeckte beinahe alles andere.
»Haben Sie irgendwelche Fortschritte mit Ihrem Fall gemacht?« fragte sie, sobald sie nahe genug war, um mit ihm sprechen zu können, ohne belauscht zu werden.
»Nichts Endgültiges«, erwiderte er. »Ich habe Caleb gefunden, aber nicht Angus.«
»Was ist passiert?« Ihre Miene verriet aufrichtiges Interesse. Er wollte es ihr nicht erzählen, weil er nicht an diesem schrecklichen Ort mit ihr reden wollte. Mit ein wenig Glück wäre sie im Haus der Ravensbrooks gewesen.
»Warum sind Sie nicht bei Lady Ravensbrook?« fragte er barsch. »Sie kann sich nicht zur Gänze erholt haben.«
»Im Augenblick ist Genevieve an der Reihe«, sagte sie überrascht. »Callandra braucht hier ebenfalls Hilfe. Ich hätte doch gedacht, daß Ihnen das einleuchtet. Ihrer schlechten Laune entnehme ich, daß Ihr Gespräch mit Caleb Stone unbefriedigend war? Ich weiß nicht, was Sie anderes erwartet haben, doch nicht, daß er den Mord gestehen und Sie zu der Leiche führen würde.«
»Im Gegenteil«, sagte er ungeduldig. »Er hat gestanden.«
Sie hob die Augenbrauen. »Und Sie zu der Leiche geführt?«
»Nein…«
»Dann war das Geständnis nicht viel wert, oder? Hat er Ihnen verraten, wie er ihn getötet hat oder wo?«
»Nein.«
»Oder wenigstens, warum?«
Sie hatte ihn gründlich in Rage gebracht. Es wäre nicht so empörend gewesen, wenn sie immer so bockbeinig und unintelligent gewesen wäre, aber es stiegen Erinnerungen an andere Gelegenheiten in ihm auf, Gelegenheiten, bei denen sie so anders gewesen war, mutig und mit kristallklarem Verstand. Er hätte ihr die Umstände zugute halten müssen. Vielleicht war es nur natürlich, daß Sie ihm im Augenblick ein wenig begriffsstutzig erschien. Aber er hätte viel darum gegeben, wenn sie überhaupt nicht hiergewesen wäre. Es widerstrebte ihm zutiefst, sie deswegen bewundern zu müssen. Es war wie Galle in seinem Mund, bitter, wie der Geschmack von Angst. Vielleicht war es genau das - Angst.
»Hat er Ihnen gesagt, warum?« unterbrach sie seinen Gedankenfluß. »Das wäre vielleicht hilfreich.«
Der dunkle Höcker des Körpers, der ihnen am nächsten lag, stöhnte auf und warf sich unruhig auf dem Stroh hin und her.
»Nein«, sagte Monk schroff. »Nein, das hat er nicht getan.«
»Wahrscheinlich spielt es auch keine Rolle, außer natürlich, daß man dadurch vielleicht einen Hinweis bekommen hätte…« Sie hielt inne. »Ich weiß nicht, worauf.«
»Natürlich spielt es eine Rolle«, widersprach er ihr sofort. »Er hat die Tat möglicherweise nicht allein verübt. Vielleicht hat Genevieve ihn dazu angestiftet.«
Sie erschrak. »Genevieve! Das ist lächerlich! Warum sollte sie? Sie hat durch Angus' Tod alles zu verlieren und nichts zu gewinnen.«
»Sie hat ein hübsches Erbe zu gewinnen«, bemerkte er. »Und nach einer angemessenen Wartezeit die Freiheit, sich erneut zu verheiraten.«
»Was bringt Sie auf den Gedanken, daß sie das wollen könnte?« fragte sie ärgerlich. Dieser Gedanke war ihr offensichtlich ebenso neu, wie er ihr abscheulich erschien.
»Alles spricht dafür, daß sie ihren Mann von ganzem Herzen geliebt hat. Was bringt Sie auf den Gedanken, es könne sich anders verhalten haben?« Das war eine Herausforderung. Sie lag deutlich sichtbar in ihren Augen und in ihrer Stimme.
Er antwortete mit gleicher Schärfe. »Ihre enge Freundschaft mit Titus Niven, die für eine Frau, die möglicherweise gerade erst zur Witwe geworden ist, doch reichlich bemerkenswert scheint. Ihr Mann ist nicht einmal für tot erklärt worden, ganz zu schweigen davon, daß er in seinem Grab läge.«
»Sie haben einen verdorbenen Geist.« Sie sah ihn vernichtend an. »Mr. Niven ist ein Freund der Familie. Für die meisten Menschen ist es völlig natürlich, einem Freund in einer Zeit der Trauer beizustehen. Es überrascht mich, daß Sie das nicht bei anderen beobachtet
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