Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sein Bruder Kain

Sein Bruder Kain

Titel: Sein Bruder Kain Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
Vom Netzwerk:
tugendhaft gewesen.« Sie zuckte die Schultern. »Aber vielleicht war er gerade deswegen langweilig? Einige besonders respektable Leute sind das nämlich, wissen Sie das nicht?«
    Er sagte nichts.
    »Kennen Sie nicht selbst auch einige sehr ehrenwerte Damen, die fürchterlich langweilig sind?« Sie sah ihn durch ihre langen Wimpern von der Seite an.
    Er erwiderte ihr Lächeln. Wenn er es geleugnet hätte, würde sie ihm nicht geglaubt haben, keinen Augenblick lang. Und vielleicht war Angus tatsächlich alles, was Genevieve sich von einem Ehemann erhoffte und erwartete, aber er konnte durchaus auch ein Langweiler gewesen sein.
    »Wenn es so wäre, was glauben Sie, wo die beiden sich kennengelernt haben könnten?« fragte sie nachdenklich. »Wo würde eine angesehene Frau mit begrenzter Kenntnis der weniger angenehmen Seiten der menschlichen Gesellschaft hingehen, um sich mit einem Liebhaber zu treffen?«
    »Das würde ganz davon abhängen, ob der Liebhaber Titus Niven oder Caleb heißt«, erwiderte er; er nahm die Idee nicht wirklich ernst, aber es machte ihm Spaß, auf Drusillas Phantasievorstellungen einzugehen. Es war ein weit amüsanterer Abend als jeder, den er in einem Konzertsaal oder bei einem Vortrag verbracht hatte, wie tiefgründig dessen Thema auch gewesen sein mochte.
    Sie überquerten die Straße, und er drückte ihren Arm eine Spur fester an sich. Es war ein angenehmes Gefühl, ein Hauch von Wärme in dem unbarmherzigen Wind, der die Straße hinunterblies und zwischen die Gebäude fuhr, um den Gestank von tausend qualmenden Schornsteinen auf sie zuzuwehen.
    Langsam gewann er Gefallen an der Sache.
    »Sie könnte sich vielleicht nach etwas Spaß gesehnt haben«, sagte er wohlgelaunt. »Wenn Angus ein Langweiler war, dann würde sie sicher nach etwas Ausschau halten, das für ihn niemals in Frage käme.«
    »Ein Variete!« sagte sie lachend. »Ein Spielsalon. Ein Marionettentheater, vielleicht Punch and Judy? Ein Orchester oder ein Straßenmusikant? Es gibt so viele Dinge, die ein Mann mit einer Krämerseele niemals tun würde, die aber trotzdem großen Spaß machen - finden Sie nicht auch? Wie wär's mit einem Leierkasten? Einem Basar?« Sie kicherte leise. »Einem Guckkasten? Einem Boxkampf mit bloßen Fäusten?«
    »Was wissen Sie denn von diesen Boxkämpfen?« fragte er überrascht. Es war ein ebenso brutaler wie ungesetzlicher Sport.
    Sie winkte ab. »Oh, gar nichts! Ich habe mir nur vorgestellt, daß sie etwas wirklich Tollkühnes tun würde, an einem Ort, an dem Angus sie nie vermuten und an dem auch niemand aus ihren gesellschaftlichen Kreisen jemals verkehren würde«, meinte sie. »Die Leute könnten reden, und das kann sie nicht brauchen - schon gar nicht, wenn sie an seiner Ermordung beteiligt war.«
    »Es würde keine Rolle spielen, wenn jemand sie mit Caleb sehen würde«, stellte er fest. »Im Lampenlicht oder im Schatten würde jeder Caleb, wenn er nur halbwegs anständig gekleidet ist, für Angus halten.«
    »Oh!« Sie biß sich auf die Unterlippe. »Ja, natürlich. Das hatte ich ganz vergessen.« Daraufhin gingen sie etwa fünfzig Meter schweigend nebeneinander her. Sie kamen an eine Straßenkreuzung, und er führte sie um den Piccadilly Circus herum und auf der anderen Seite zum Haymarket. Die meisten Vergnügungen, von denen sie gesprochen hatte, wurden hier angeboten, in der Great Windmill Street oder auf der Shaftesbury Avenue.
    Als sie sich im Lichtkreis der Gaslaternen und der erleuchteten Schaufenster befanden, inmitten ungezählter Theater und anderer Besucher, trafen sie auf Frauen, die in arroganter Haltung und mit einladendem Schwung ihrer Hüften an ihnen vorüberschlenderten. Röcke tanzten über das Pflaster, und hin und wieder war eine schlanke Fessel zu sehen.
    Alle möglichen Arten von Frauen waren hier vertreten: junge Mädchen vom Land mit frischen Gesichtern; bleiche, raffinierte Verführerinnen; Frauen, die Putzmacherinnen oder Schneiderinnen gewesen waren oder in häuslichen Diensten gestanden hatten bis sie durch einen Fehltritt ihre Stellungen verloren, und schließlich ältere Frauen, von denen einige schon von Geschlechtskrankheiten gezeichnet waren.
    Junge, gutgekleidete Herren schlenderten an ihnen vorüber und trafen ihre Wahl für den Abend. Andere Männer waren älter, einige hatten bereits silberne Strähnen im Haar. Ab und an verschwanden zwei Leute Arm in Arm im Eingang irgendeines Hauses, das ihnen für kurze Zeit Unterschlupf bieten mochte.
    Kutschen

Weitere Kostenlose Bücher