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Sein Bruder Kain

Sein Bruder Kain

Titel: Sein Bruder Kain Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Menschen verraten. Er zählte Ehrenhaftigkeit zu seinen Tugenden. Nicht ein einziges Mal hatte er sein Wort gebrochen. Er hätte sich niemals durch ein solches Verhalten selbst erniedrigt.
    Konnte er sich so sehr verändert haben? Hatte der Schlag auf seinen Kopf nicht nur seine ganze Vergangenheit ausgelöscht, sondern auch sein Wesen verändert? War so etwas möglich?
    Er ging im Zimmer auf und ab und versuchte an all das zu denken, was er sich von seiner Persönlichkeit vor dem Unfall zusammengereimt hatte, an die Bruchstücke seines Lebens, die ihm wieder eingefallen waren und Schlaglichter auf seine Kindheit im Norden, das Bild des Meeres, seine Gewalt und Schönheit geworfen hatten. Er erinnerte sich an seinen Eifer zu lernen, flüchtige Eindrücke; an ein Gesicht, ein Gefühl von Ungerechtigkeit und Verzweiflung, an den Mann, der sein Lehrer gewesen war und den man betrogen und ruiniert hatte, während Monk hilflos danebenstehen mußte. Nichts, was er tun konnte, hatte ihn gerettet. Das war der Zeitpunkt, an dem er seine Tätigkeit als Geschäftsmann aufgab und seine Arbeit im Polizeidienst begann.
    Das war kein Mann, der andere verraten würde!
    Bei der Polizei war er dann rasch aufgestiegen. Ein Dutzend Kleinigkeiten, die Gesichter von Menschen, wenn er sie wiedersah, halb erlauschte Bemerkungen hatten ihm einen Eindruck von seinem Charakter vermittelt: Er hatte eine scharfe Zunge gehabt, war kritisch und bisweilen rücksichtslos gewesen. Runcorn, sein ehemaliger Vorgesetzter, hatte ihn gehaßt, und nach und nach hatte er herausgefunden, daß dieser Haß durchaus berechtigt war. Monk hatte zu Runcorns Mißerfolgen und Fehlern seinen Beitrag geleistet, war ihm ständig in die Quere gekommen, auch wenn Runcorn sein Verhalten zum größten Teil sich selbst zuzuschreiben hatte, mit seinen kleinen Gemeinheiten und seinem persönlichen Ehrgeiz, den er auf Kosten anderer befriedigte.
    War das auch eine Art von Verrat?
    Nein. Es war grausam, aber es war nicht unehrlich. Verrat war zu guter Letzt immer eine Art Betrug.
    Er wußte beinahe nichts über seine Beziehung zu Frauen. Die einzige Frau, an die er sich überhaupt erinnern konnte, war Hermione, von der er geglaubt hatte, daß er sie liebe, und in dieser Geschichte war er der Verlierer, der Betrogene gewesen. Es war Hermione, die nicht hielt, was sie versprach, sie, die zu oberflächlich war, um an der Liebe festzuhalten, die die Herausforderung scheute und statt dessen der Bequemlichkeit und Sicherheit den Vorzug gab. Er konnte noch immer das dumpfe Gefühl des Verlustes spüren, nachdem er sie wiedergefunden hatte, so voller Hoffnung, und dann die Desillusionierung, die totale Leere.
    Aber er mußte Drusilla gekannt haben! Der Haß in ihrem Gesicht hatte irgendeinen schrecklichen Grund, seinen Ursprung in einer Beziehung, in der sie so sehr verletzt worden war, daß sie nicht davor zurückschreckte, diesen unglaublichen Schritt zu tun, um sich zu rächen.
    Er hatte bereits alle Briefe und Rechnungen durchgesehen, die er finden konnte, als er damals nach dem Unfall nach Hause zurückkehrte, denn er wollte versuchen, das Gerüst seines Lebens zu rekonstruieren. Aber es war wenig genug gewesen. Er war sehr sorgsam mit seinem Geld umgegangen, aber extravagant, was sein Aussehen betraf. Seine Schneiderrechnungen waren sehr hoch, ebenso wie die seines Stiefelmachers, ja sogar seines Friseurs.
    Er hatte keine persönlichen Briefe gefunden außer denen seiner Schwester Beth, und nicht einmal ihr schien er geantwortet zu haben. Jetzt sah er sämtliche Briefe noch einmal durch, aber es war nichts in derselben Handschrift darunter, in der Drusillas Brief geschrieben war. Allerdings enthielten diese Briefe ohnehin nichts Persönliches.
    Er legte alles wieder zurück. Es war ein spärliches Ergebnis für ein ganzes Leben, das nichts über die Einzigartigkeit eines Menschen aussagte und keinen Eindruck von seinem Wesen und seiner Persönlichkeit vermittelte. Es mußte so vieles geben, das er nicht wußte und wahrscheinlich niemals wissen würde. Es mußte Liebe und Haß gegeben haben, Großzügigkeit, Verletzungen, Hoffnungen, Demütigungen und Triumphe. All das war ausgelöscht, als sei es nie geschehen.
    Nur daß diese Dinge für andere Menschen immer noch existierten, klar und real und angefüllt mit all ihren Gefühlen, all ihrem Schmerz.
    Wie konnte er eine Frau wie Drusilla mit ihrer Vitalität, ihrer Schönheit, ihrem Witz und ihrem Charme gekannt und dann einfach so

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