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Sein Bruder Kain

Sein Bruder Kain

Titel: Sein Bruder Kain Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Bewohner einer Straße, manchmal auch von zwei Straßen, muß sich mit Eimern am Brunnen in eine Schlange stellen, um Wasser zu bekommen, und die Hälfte der Brunnen ist von Abfallhaufen, Jauchegruben oder Abwasserkanälen verseucht. Selbst wenn sie nicht nur einen einzigen Eimer für jeden Zweck benutzen müßten!« Ihre Stimme klang wütend, verbittert und gequält. »Sie werden mit Krankheiten geboren, und sie sterben mit ihnen. Ein paar Abwasserrohre werden daran nichts ändern!«
    »O doch, sie könnten sehr wohl etwas ändern«, sagte Hester langsam, obwohl Genevieves leidenschaftlicher Ausbruch sie verwirrte; seine Heftigkeit und der tiefe Ernst dahinter waren ihr ein Rätsel. »Die Probleme rühren nämlich von den Kanälen und den Gossen her.«
    Genevieve lachte höhnisch. »Das ist doch dasselbe!«
    »Nein, das ist es nicht!« entgegnete Hester und beugte sich über den Tisch. »Wenn es eine vernünftige wasserführende Kanalisation gäbe, dann…«
    »Wasser?« In Genevieves Gesichtsausdruck lag gleichermaßen Erstaunen wie Entsetzen. »Dann würde es überall hinfließen!«
    »Nein, das würde es nicht…«
    »O doch! Ich habe das oft gesehen, wenn die Gezeiten wechseln oder nach einem schweren Regen. Dann steigt alles nach oben, die Abfallhaufen werden zusammen mit den Abwässern durch den Rinnstein gespült! Selbst wenn das Wasser dann wieder zurückweicht, türmen sich die Dinge, die es hinterläßt, in den Straßen! Man kann es nicht wegschaufeln!«
    »Wo?« fragte Hester langsam, während ein unglaublicher Gedanke in ihrem Kopf Gestalt annahm, etwas Ungeheuerliches, das trotzdem, so verrückt und absurd es auch schien, wahr sein konnte.
    »Was?« Eine brennende Röte überzog Genevieves Gesicht. Sie suchte verzweifelt nach Worten und fand keine. »Nun - vielleicht habe ich es nicht selbst gesehen. Ich hätte sagen sollen, daß ich davon gehört habe…« Sie senkte den Kopf, als wolle sie sich wieder ihrem Essen zuwenden, spielte aber nur damit herum und schob es mit ihrer Gabel von einer Seite des Tellers zur anderen.
    »Caleb lebt in Limehouse, nicht wahr?« erinnerte Hester sich plötzlich.
    »Ich glaube ja.« Genevieves Körper straffte sich, und die Hand, die die Gabel hielt, verharrte. »Warum? Ich habe ganz gewiß nichts von ihm gehört! Ich habe ihn nur ein oder zweimal getroffen. Ich kenne ihn kaum!« Die Furcht und das Entsetzen standen ihr ins Gesicht geschrieben, und ein Abscheu, der zu groß war, um ihn mit Worten ausdrücken zu können.
    Hester fühlte sich beschämt, weil sie den Namen des Mannes ins Spiel gebracht hatte, der der anderen Frau so viel Leid gebracht hatte. Instinktiv legte sie ihre Hand auf die Genevieves.
    »Es tut mir leid. Ich wünschte, ich hätte nicht von ihm gesprochen. Es gibt auch angenehmere Dinge, über die wir uns unterhalten können. Ich habe gestern, als ich das Haus verließ, Mr. Niven im Flur getroffen. Er scheint ein sehr sanftmütiger Mensch zu sein und ein guter Freund von Ihnen.«
    Genevieve errötete. »Ja, das ist er«, gab sie zu. »Er hatte Angus sehr gern trotz des… des geschäftlichen Unglücks, das ihn getroffen hat. Er ist in Wirklichkeit ein sehr tüchtiger Mann, müssen Sie wissen. Er hat aus seinen übereilten Entscheidungen gelernt.«
    »Das freut mich«, sagte Hester aufrichtig. Sie hatte Nivens Gesicht sofort gemocht und Genevieve schon seit langem ins Herz geschlossen. »Vielleicht findet er eine Stellung, in der er seine augenblickliche Situation verbessern kann.« Genevieve senkte den Blick. Sie wirkte verlegen, aber ihr Kinn verriet Entschlossenheit, und um ihren üppigen Mund lag ein Zug, der sowohl Zärtlichkeit als auch Kummer ausdrückte.
    »Ich… ich denke darüber nach, ihm die Leitung meines Geschäftes anzubieten… das heißt… das heißt natürlich, sofern es mir gestattet ist.« Sie sah Hester an. »Sie müssen mich für sehr kalt halten. Bisher gibt es noch keinen Beweis für das, was meinem Mann zugestoßen ist, obwohl ich es in meinem Herzen bereits weiß. Und hier sitze ich und rede darüber, wen ich an seine Stelle setzen will.« Sie beugte sich vor und schob ihren noch immer vollen Teller beiseite. »Ich kann Angus nicht mehr helfen. Ich habe alles, was ich konnte, getan, um ihn davon abzuhalten, zu Caleb zu gehen, aber er wollte nicht auf mich hören. Jetzt muß ich an meine Kinder denken und daran, was aus ihnen werden wird. Die Welt wird nicht den Atem anhalten, während ich trauere.« Ihre Augen waren ruhig,

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