Sein Bruder Kain
aufgezwungen habe, was sie unmöglich selbst glauben konnte, dann durfte sie bestenfalls erwarten, ebenso Gegenstand von Spekulationen wie von Mitleid zu werden und schlimmstenfalls Zielscheibe nicht allzu wohlmeinender Gerüchte. Vielleicht war sie aus Bedlam oder einer anderen Irrenanstalt entlaufen.
Er legte sich auf den Rücken und starrte zur Decke.
Nein, das war Unsinn. Wenn sie wahnsinnig war, würde keine Anstalt, sondern ihre Familie für sie sorgen. So mußte es sein. Sie hatte einen geistigen Defekt und war ihren Wärtern vorübergehend entflohen. Wenn diese sie wiederfanden, würde alles geklärt werden. Man würde ihn verstehen. Es war durchaus möglich, daß ähnliche Dinge schon früher passiert sind. Vielleicht hatte sie einem anderen unglückseligen Mann genau dasselbe angetan.
Er stand auf, wusch und rasierte sich. Und während er sein Gesicht im Spiegel betrachtete, die hageren Wangen, die grauen Augen mit dem intelligenten Blick, die kräftigen Lippen mit der nur noch schwach sichtbaren Narbe darunter, erinnerte er sich plötzlich daran, daß er dasselbe Gesicht gesehen hatte, als er aus dem Krankenhaus zurückkehrte. Damals hatte er es nicht gekannt, ja es war ihm nicht im mindesten vertraut erschienen. Er hatte in den Zügen geforscht, als hätte er einen Fremden vor sich, hatte nach dem Charakter des Mannes gesucht, nach seinen Schwächen und Stärken, nach seinen Begierden, nach Anzeichen von Freundlichkeit, Humor oder Mitleid.
Die nächste Frage lag auf der Hand. War Drusilla Wyndham wahnsinnig, oder hatte sie ihn früher schon gekannt - und gehaßt? Hatte er ihr etwas angetan, das sie ihm nicht verzeihen konnte, und war das jetzt ihre Rache?
Er wußte es nicht!
Langsam säuberte er sein Rasierzeug und legte es beiseite, wobei seine Hände sich ganz automatisch bewegten.
Aber wenn er sie gekannt hatte, dann mußte sie doch davon ausgehen, daß er sie genauso wiedererkennen würde, wie sie ihn wiedererkannt hatte? Wie konnte sie es wagen, sich ihm zu nähern, als wären sie Fremde? Hatte sie sich so sehr verändert, daß sie davon ausging, daß er sie nicht erkennen würde?
Das war lächerlich. Sie war eine bemerkenswerte Frau, nicht nur schön, sondern auch überaus ungewöhnlich. Ihre Haltung, ihre Würde und ihr Mutterwitz waren einzigartig. Wie konnte sie davon ausgehen, daß irgendein Mann, der ihr einmal begegnet war, sie so gründlich vergessen würde, daß er sie bei einem Wiedersehen nicht erkannte, nicht einmal, wenn er sie mehrmals traf, mit ihr sprach und mit ihr lachte?
Er trat ans Fenster und starrte hinaus in den grauen Morgen, während unten auf der Straße Droschken mit noch immer brennenden Laternen vorbeifuhren.
Sie mußte von seinem Gedächtnisverlust wissen.
Aber woher? Wer konnte ihr davon erzählt haben? Niemand wußte davon außer seinen engsten Freunden: Hester, Callandra, Oliver Rathbone und natürlich John Evan, der junge Polizist, der während jenes ersten schrecklichen Ereignisses nach dem Unfall so treu zu ihm gestanden hatte.
Warum haßte sie ihn so sehr, daß sie ihm so etwas antat? Es war kein plötzlicher Impuls gewesen. Sie hatte von Anfang an gelogen und einen Plan verfolgt, hatte ihn aufgespürt und mit ihrem Charme bezaubert, bevor sie ihn mit voller Absicht in eine Situation gebracht hatte, in der sie ihn anschuldigen konnte, ohne daß er die Möglichkeit hatte, sich zu verteidigen. Sie waren allein gewesen. Ihr Ruf hatte keinen Schaden gelitten; es war eine Situation, in die eine Frau geraten konnte, ohne daß irgend jemand ihr daraus einen Vorwurf machen würde. Er hätte sie auf eine unverzeihliche Weise belästigen können, und sie hatte Zeugen, zumindest für ihren schlimmen Zustand und ihre Flucht.
Wer würde seiner Darstellung der Dinge Glauben schenken? Niemand. Die Sache ergab überhaupt keinen Sinn. Er konnte es ja selbst kaum glauben. Er zog sich an und zwang sich, das Frühstück zu verzehren, das seine Vermieterin ihm brachte.
»Sie sehen aber gar nicht gut aus, Mr. Monk«, sagte sie kopfschüttelnd. »Ich hoffe doch sehr, Sie brüten mir nichts aus. Heiße Senfumschläge, hat meine selige Mutter immer gesagt. Hat darauf geschworen, wirklich. Jedenfalls sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie einen brauchen, ich mach' ihn dann für Sie.«
»Vielen Dank«, sagte er geistesabwesend. »Ich glaube, ich bin einfach nur müde. Machen Sie sich meinetwegen keine Sorgen.«
»Na, dann passen Sie mal gut auf sich auf.« Sie nickte. »Sie
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