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Sein Bruder Kain

Sein Bruder Kain

Titel: Sein Bruder Kain Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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zerfetzte den Stoff, entblößte ihr bleiches Fleisch und schlitzte es mit ihren Fingernägeln auf, bis es blutete. Sie schrie, wieder und wieder, grell und durchdringend, als stünde sie Todesängste aus. Sie trommelte mit ihren Fäusten auf seine Brust, stieß ihn zur Seite und sprang kopfüber auf die Straße, wo sie der Länge nach auf dem Pflaster landete. Sofort raffte sie sich auf, immer noch schreiend, und rannte auf den erstaunten Lakaien zu, der versuchte, ein erschrockenes Pferd unter Kontrolle zu halten, das durch den Lärm unruhig geworden war.
    Monk war zu sprachlos, um auch nur zu begreifen, was da geschah. Erst als ein anderer Lakai versuchte, in den Hansom zu klettern, und mit vor Zorn verzerrtem Gesicht schrie: »Lump! Rohling!« kam plötzlich wieder Leben in ihn. Monk hob den Fuß und beförderte den Mann mit einem kräftigen Tritt nach draußen, bevor er dem Kutscher den Befehl zuschrie weiterzufahren.
    Die Droschke machte einen Satz nach vorn; der Fahrer schien eher erschrocken als gehorsam, und Monk wurde hart gegen den Sitz geschleudert. Es dauerte einen Augenblick, bis er sein Gleichgewicht wiedergefunden hatte, und da fuhren sie auch schon in sehr schnellem Tempo nach Süden.
    »Fitzroy Street!« rief er dem Fahrer zu. »So schnell Sie können! Haben Sie mich verstanden?«
    Der Fahrer erwiderte irgend etwas Unverständliches, und einen Augenblick später wurde die Kutsche gewendet. Monk war wie betäubt. Er konnte es nicht begreifen. Es war so, als hätte er plötzlich den Verstand verloren, als sei er binnen einer Sekunde dem Wahnsinn verfallen. Im einen Augenblick waren sie enge Freunde gewesen, glücklich und fröhlich, im nächsten war es, als hätte sie sich eine Maske vom Gesicht gerissen, und darunter war etwas Gräßliches zum Vorschein gekommen, ein haßerfülltes Geschöpf, das dem Irrsinn verfallen war und nicht davor zurückschreckte, sich aus einer fahrenden Kutsche zu stürzen.
    Und die Anschuldigung, die sie gegen ihn erhoben hatte, konnte ihn ruinieren. Erst als er die Fitzroy Street erreichte und die Droschke anhielt, wurde ihm die Bedeutung dessen, was sie getan hatte, klar. Alles stand da im Gesicht des Kutschers zu lesen, das Entsetzen und die Verachtung.
    Er öffnete den Mund, um seine Unschuld zu beteuern, und begriff die Nutzlosigkeit eines solchen Versuchs. Er entlohnte den Mann, bevor er mit langen Schritten den Fußweg entlang, die Treppe hinauf und durch die Haustür ging. Die Kälte, die er verspürte, drang ihm bis in die Knochen.

7
    Als Monk am nächsten Morgen erwachte, kehrte die Erinnerung wie eine kalte Flut zurück und schien ihn schier zu ersticken. Er rang nach Luft und setzte sich am ganzen Leib zitternd auf. Der Abend war wunderbar gewesen, voller Lachen und Warmherzigkeit. Dann hatte Drusilla sich plötzlich und ohne die leiseste Vorwarnung von der liebevollen, vertrauten Freundin, die sie gewesen war, in eine schreiende Anklägerin mit haß verzerrtem Gesicht verwandelt. Er konnte sich mit erschreckender Klarheit an dieses Gesicht erinnern, so als befände es sich noch immer vor ihm - die zurückgezogenen Lippen, die Häßlichkeit in Mund und Augen, der Triumph.
    Aber warum? Er kannte sie doch kaum, und alles, was sie miteinander erlebt hatten, war von größter Freude erfüllt gewesen. Sie war eine kultivierte, bezaubernde Frau der Gesellschaft, die sich einige wenige Stunden des Vergnügens gegönnt hatte, die etwas tollkühner waren als ihre gewohnten Beschäftigungen. Sie fühlte sich innerhalb ihres eigenen Gesellschaftskreises eingeengt und hatte Monk dazu auserkoren, sie für kurze Zeit daraus zu befreien. Und sie hatte ihn wirklich auserkoren! Ihr Interesse war von dem Augenblick an geweckt, in dem sie sich auf der Treppe der Geographischen Gesellschaft getroffen hatten. Wenn er nun daran zurückdachte, war ihm klar, daß sie an ihrem Zusammenstoß dort genausoviel Schuld trug wie er. Vielleicht hätte er sich schon damals fragen sollen, warum sie so bereitwillig seine Gesellschaft gesucht hatte. Die meisten Frauen wären vorsichtiger, argwöhnischer gewesen. Aber er war davon ausgegangen, daß die ihr auferlegten gesellschaftlichen Pflichten sie langweilten und sie sich nach der Freiheit sehnte, die er repräsentierte.
    Hatte er es mit einer Wahnsinnigen zu tun gehabt? Ihr Benehmen war mehr als labil, es war völlig unausgeglichen. Diese Anschuldigung konnte ihn ruinieren, aber wenn sie darauf beharrte, daß er ihr seine Aufmerksamkeiten

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