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Sein Bruder Kain

Sein Bruder Kain

Titel: Sein Bruder Kain Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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ja, ich glaube, das Fieber läßt ein wenig nach. Auf alle Fälle gibt es weniger Tote. Heute haben wir zwei Leute nach Hause geschickt; beiden ging es gut genug, um das Krankenhaus zu verlassen.«
    »Wer sind sie? Habe ich sie kennengelernt?«
    »Ja«, sagte Hester mit einem breiten Lächeln. »Einer ist der kleine Junge, den Sie so gern hatten, der andere jemand, von dem Sie glaubten, er würde niemals überleben…«
    »Es geht ihm gut?« fragte Enid erstaunt, und ihre Augen leuchteten auf. »Er hat sich wieder erholt?«
    »Ja. Er ist heute nach Hause gegangen. Ich weiß nicht, was ihm die Kraft dazu gegeben hat, aber er hat überlebt.«
    Enid ließ sich wieder in die Kissen zurückfallen, und in ihrem Gesicht stand eine große Freude, fast ein Strahlen. »Und wer ist der andere?« fragte sie.
    »Eine Frau mit vier Kindern«, antwortete Hester. »Sie ist ebenfalls nach Hause zurückgekehrt. Aber wie geht es Ihnen? Das ist der Grund, weshalb ich hergekommen bin.«
    Ihre Frage entsprang freundschaftlicher Besorgnis. Sie würde sich selbst ein Urteil bilden. Enids Zustand hatte sich deutlich gebessert. Ihre Augen waren klarer, ihre Temperatur wieder normal, aber das Fieber hatte sie sehr mitgenommen; sie sah aus, als wäre sie am Ende ihrer Kraft.
    Enid lächelte. »Ich kann es kaum erwarten, mich noch besser zu fühlen«, gestand sie. »Ich hasse diese Schwäche. Ich kann ja kaum die Hände heben, um allein zu essen, ganz zu schweigen davon, mir mal wieder selbst die Haare zu kämmen. Es ist lächerlich. Ich liege nutzlos hier herum. Es gibt so viel zu tun, und ich verschlafe drei Viertel meines Lebens.«
    »Das ist das Beste, was Sie tun können«, versicherte Hester ihr. »Kämpfen Sie nicht dagegen an. Das ist die Art und Weise, wie die Natur Sie heilt. Sie werden um so schneller genesen, wenn Sie sich ihr unterwerfen.«
    Enid biß die Zähne zusammen. »Ich hasse jede Unterwerfung!«
    »Militärische Taktik.« Hester beugte sich verschwörerisch vor. »Man darf niemals kämpfen, wenn man weiß, daß der Feind im Vorteil ist. Wählen Sie einen günstigen Zeitpunkt aus, und überlassen Sie's nicht dem Feind. Treten Sie jetzt den Rückzug an, und kommen Sie wieder, wenn der Vorteil auf Ihrer Seite ist.«
    »Haben Sie schon jemals daran gedacht, Soldat zu werden?« fragte Enid mit einem Kichern, das in einem Hustenanfall mündete.
    »Oft«, antwortete Hester. »Ich glaube, ich würde meine Sache besser machen als viele der Männer, die sich im Augenblick damit beschäftigen. Schlechter jedenfalls nicht.«
    »Lassen Sie das nur nicht meinen Mann hören!« warnte Enid sie mit einem glücklichen Lächeln.
    Genevieves Erscheinen enthob Hester der Antwort. Sie sah weniger gehetzt aus als bei ihrer letzten Begegnung, obwohl sie gewiß müde war. Hester wußte von Monk, daß es keine guten Neuigkeiten für sie gegeben hatte.
    Sie begrüßten einander, und nachdem sie die notwendigen Informationen bezüglich Enids Zustand ausgetauscht hatten, verließen sie beide den Raum, um sich der Mahlzeit zu widmen, die man im Wohnzimmer der Haushälterin für sie bereitgestellt hatte.
    »Das Fieber in Limehouse läßt eindeutig nach«, sagte Hester beiläufig. »Ich wünschte nur, wir könnten etwas tun, um zu verhindern, daß es erneut auftritt.«
    »Was könnte man denn dagegen unternehmen?« wollte Genevieve stirnrunzelnd wissen. »So, wie die Menschen dort leben, muß es einfach immer wieder zu solchen Seuchen kommen.«
    »Dann muß man die Art, wie sie leben, eben ändern«, erwiderte Hester.
    Genevieve lächelte, und in ihrem Lächeln lagen Bitterkeit und eine Art von Abscheu, in dem jedoch auch eine Spur Mitleid sowie Zorn mitschwangen.
    »Da hätten Sie mehr Glück, wenn Sie versuchen wollten, den Gezeitenwechsel zu verhindern.« Sie spießte ein Stück Fleisch von ihrer Pastete auf die Gabel und schob es sich in den Mund. Nachdem sie den Bissen hinuntergeschluckt hatte, begann sie von neuem zu sprechen. »Sie können die Menschen nicht verändern. Oh, vielleicht ein oder zwei, aber nicht Tausende. Sie leben seit Generationen so; nie ist genug zu essen da, das Brot ist voller Alaun, die Milch besteht zur Hälfte aus Wasser.« Sie stieß ein hartes Lachen aus. »Selbst der Tee wäre besser als Rattengift geeignet denn als Getränk für Menschen. Nur hart arbeitende Männer bekommen Dinge wie Schweinsfüße oder geräucherte Heringe vorgesetzt, der Rest der Familie muß ohne das auskommen. Niemand hat Obst oder Gemüse. Jeder

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