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Sein Bruder Kain

Sein Bruder Kain

Titel: Sein Bruder Kain Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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völlig vergessen haben, daß er sich noch nicht einmal, nachdem er sie wiedergesehen hatte, nachdem er so glücklich mit ihr gewesen war, an sie erinnern konnte? Da war nichts Vertrautes. Sosehr er sich auch das Gehirn zermarterte, er fand keine Spur, nicht einmal das flüchtigste Aufblitzen einer Erinnerung.
    Er starrte aus dem Fenster auf die Straße hinaus. Der Tag war immer noch grau, aber die Kutschenlampen brannten nicht mehr.
    Es wäre eine Illusion zu glauben, daß sie ihre Drohungen nicht Wahrmachen würde. Natürlich konnte sie nichts beweisen, nichts war geschehen. Aber das spielte letztlich keine Rolle. Sie konnte Anklage gegen ihn erheben, und das würde ausreichen, um ihn zu ruinieren. Sein Lebensunterhalt hing von seinem Ruf ab, von dem Vertrauen, das andere in ihn setzten.
    Andere Fähigkeiten hatte er nicht. Vielleicht wußte sie das? Was hatte er ihr angetan? Was für ein Mann war er - was für ein Mann war er gewesen?
    Hester hatte nach wie vor Anteil an der Pflege Enid Ravensbrooks, die mittlerweile auf dem langen, beschwerlichen Weg der Genesung war, aber noch immer ständiger Aufmerksamkeit bedurfte, um keinen Rückfall zu erleiden.
    Am selben Morgen, an dem Monk den Brief Drusillas erhalten hatte, war Hester aus dem Nothospital in Limehouse ins Haus der Ravensbrooks zurückgekehrt, müde und äußerst erschöpft. Ihr Körper schmerzte vom wenigen Schlaf, ihre Augen brannten, als hätte sie sich Sand oder Staub hineingerieben, und der Anblick, die Geräusche und Gerüche der Krankheit quälten sie von Tag zu Tag mehr. So viele Menschen waren gestorben, aber die wenigen, die sich erholt hatten, verliehen all der Plackerei doch einen Sinn. Und wie sehr Kristian sich auch bemühte, welche Argumente er dem Gemeinderat auch vortrug, es wurde nichts unternommen. Die Menschen hatten Angst vor der Krankheit, Angst vor den Kosten, die neue Abwasserkanäle mit sich bringen würden, Angst vor Veränderungen, vor neuen Erfindungen, die vielleicht nicht funktionierten, und vor alten, die bereits versagt hatten, und vor dem Tadel, der sie treffen würde, ganz gleich, was sie auch taten. Es war ein mühsamer Kampf, und er war so gut wie sicher zum Scheitern verurteilt. Aber weder er noch Callandra konnten aufgeben.
    Hester hatte sie Tag für Tag dabei beobachtet, wie sie immer neue Argumente zusammentrugen und in die nächste Schlacht zogen. Jeden Abend kehrten sie besiegt zurück. Das einzig Gute daran war die Zuneigung, die sie füreinander empfanden, und selbst sie war von Schmerz gezeichnet. Nach dem Ende der Seuche würden sie sich wieder trennen und einander nur gelegentlich sehen, bei offiziellen Anlässen und vielleicht bei Vorstandstreffen des Krankenhauses, in dem Kristian arbeitete und Callandra freiwillig tätig war. Aber bei diesen Begegnungen würden sie nicht allein sein und keine Gelegenheit haben, über sich zu sprechen, und wahrscheinlich blieb das auch in Zukunft so.
    Hester wurde vom Stubenmädchen in Empfang genommen und erfuhr, daß ein Abendessen für sie bereitstand, sofern sie dies wünschte, nachdem sie Lady Ravensbrook und Mrs. Stonefield aufgesucht hatte.
    Sie bedankte sich bei dem Mädchen und ging die Treppe hinauf.
    Enid saß gegen einen Stapel Kissen gelehnt im Bett. Sie sah ausgezehrt aus, als hätte sie seit Tagen nicht gegessen oder geschlafen. Ihre Augen lagen in dunklen Höhlen, und ihre Haut wirkte farblos und wie Pergament. Das Haar hing ihr in dünnen Strähnen auf die Schultern. Sie wirkte so zerbrechlich, daß man befürchtete, die Knochen würden die Haut durchbohren. Aber als sie Hester sah, lächelte sie.
    »Wie kommen Sie im Krankenhaus zurecht?« fragte sie. Ihre Stimme war noch immer schwach, und man hatte den Eindruck, als gäbe ihr nur die ehrliche Anteilnahme an dem Geschehen im Hospital die Kraft zu sprechen. »Wird es denn überhaupt ein wenig besser? Wie geht es Callandra? Ist alles in Ordnung mit ihr? Und Mary? Und Kristian?«
    Hester spürte, wie ein Teil ihrer Anspannung von ihr abfiel. Das Zimmer war warm und behaglich. Im Kamin brannte ein Feuer. Es war eine ganz andere Welt nach der Kälte und dem Schmutz des Hospitals, den tropfenden Kerzen und dem Geruch so vieler ungewaschener Körper.
    Hester setzte sich auf die Bettkante.
    »Callandra und Mary sind immer noch wohlauf, aber natürlich sehr müde«, erwiderte sie. »Und Kristian kämpft weiterhin mit dem Gemeinderat, aber ich glaube nicht, daß er auch nur einen Millimeter vorangekommen ist. Und

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