Sein Bruder Kain
dann mußte er sie davon überzeugen, daß er nichts dergleichen im Sinn hatte, weder jetzt noch jemals in der Vergangenheit.
Aber vielleicht hatte sie sich nur unglücklich ausgedrückt? Das beste war, gar nicht darüber zu sprechen - mit niemandem. Sollte doch Gras über die Sache wachsen. In Zukunft mußte er sehr viel vorsichtiger sein. Hübsche Frauen in einem gewissen Alter waren eine teuflische Angelegenheit.
Der ehrenwerte John Blenkinsop las seine Post mit einem Ausdruck absoluter Ungläubigkeit. Er faltete den Brief hastig wieder zusammen und wollte ihn gerade in den Umschlag zurückschieben, als seine Frau, die an diesem Morgen keine Post erhalten hatte, seinen Gedankengang unterbrach. Sie hatte selbst etwas zu erzählen, etwas, das sie am Vorabend erfahren hatte, nur daß sie vor seiner Rückkehr aus dem Club zu Bett gegangen war und daher noch keine Gelegenheit hatte, mit ihm darüber zu sprechen.
»Wußtest du, John, daß neulich in der North Audley Street eine ganz abscheuliche Sache passiert ist?« Sie beugte sich über den Toast und die Marmelade. »Die arme Drusilla Wyndham, so eine nette Frau, ist in einem Hansom überfallen worden. Kannst du dir etwas so Schreckliches vorstellen? Sie hatte einen Mann in irgendeiner Sache um Hilfe gebeten, und dieser Mann, eine sehr ordinäre Person nach allem, was man hört, hat ihre Höflichkeit als Ermutigung aufgefaßt und versucht, ihr seine Aufmerksamkeiten aufzuzwingen! John, hörst du mir eigentlich zu?«
»Seine Aufmerksamkeiten aufzwingen?« wiederholte er verwirrt. »Du meinst, er hat sie geküßt?«
»Ja, ich nehme es an«, erwiderte sie. »Er hat ihr sogar das Kleid aufgerissen, am Busen. Die ganze Sache muß ein Alptraum für sie gewesen sein, das arme Geschöpf. Sie ist ihm nur entkommen, indem sie sich aus dem Hansom gestürzt hat; bei voller Fahrt, verstehst du? Sie ist auf die Straße gefallen. Ich kann nur staunen, daß sie sich nicht dabei verletzt hat.«
Der Brief brannte ihm in der Hand.
»Ich würde die Sache nicht zu wichtig nehmen, meine Liebe…«, begann er.
»Was?« Sie war entgeistert. »Wie kannst du so etwas sagen? Was um alles in der Welt meinst du damit? Der Mann hat sich unverzeihlich benommen!«
»Möglicherweise, meine Liebe, aber manche Frauen bilden sich Dinge ein, die…«
»Einbilden?« Sie war verblüfft. »Der Mann hat Hand an sie gelegt, John! Er hat ihr Kleid zerrissen! Wie ist möglich, daß sie sich so etwas eingebildet haben könnte?«
»Nun… vielleicht hat er sie gestreift, als die Kutsche schlingerte, du weißt doch, wie so etwas ist…« Er dachte an seine eigene Begegnung mit Drusilla und die absurde Art und Weise, wie sie die Begegnung verstanden hatte. Sein Mitleid galt ganz allein diesem Burschen, wer immer er auch war. Ihm brach der Schweiß aus, als ihm der Gedanke kam, daß ihm das ohne weiteres hätte auch passieren können. »Ziemlich hysterische Frau, meine Liebe«, fügte er hinzu. »Ich möchte dir keinen Kummer bereiten, aber ich würde nicht viel darauf geben, was sie sagt, wenn ich an deiner Stelle wäre. Alleinstehende Frauen von über Dreißig und all das. Neigt zu Phantasien von ziemlich hitziger Natur. So etwas gibt es. Hat eine höfliche Geste für etwas viel Schwerwiegenderes gehalten. So was gibt es.«
Sie runzelte die Stirn. »Denkst du wirklich so darüber, John? Es fällt mir schwer, das zu glauben.«
»Natürlich tut es das.« Er zwang sich zu einem Lächeln, das wenig überzeugend war. »Weil du eine Frau bist, die ordentlich verheiratet ist und ein eigenes Heim hat und alles, was dazugehört. Du würdest dir niemals irgendwelche Dinge einbilden. Aber nicht alle Frauen sind wie du, das mußt du akzeptieren. Laß dir einen Rat geben, Mariah. Ein guter Freund von mir, dessen Namen ich nicht nennen möchte, um ihm die Peinlichkeit zu ersparen, hat eine ganz ähnliche Erfahrung mit einer jungen Frau gemacht, und er war so unschuldig wie ein neugeborenes Kind, das versichere ich dir. Aber in der Hitze ihrer… ihrer Phantasien hat sie ihn vollkommen mißverstanden und ihn beschuldigt, sie… nun…, so etwas ist nichts für deine Ohren.«
»O du liebe Güte!« Sie war völlig sprachlos. »Also nein! Ich hätte wirklich nicht gedacht…«
»Das gereicht dir zur Ehre.« Er erhob sich und verließ den Tisch. »Aber ich möchte dich dringend bitten, nicht weiter über diese Angelegenheit zu reden und dich auch keinesfalls auf irgendwelche Gespräche diesbezüglich einzulassen. So,
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