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Sein Bruder Kain

Sein Bruder Kain

Titel: Sein Bruder Kain Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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beträchtlicher Anstrengung unter Kontrolle halten. Es war nichts Sichtbares, keine Tränen, kein Zittern, kein unbeholfenes Tasten nach einem Taschentuch, nur ein langes Zögern, bevor sie weitersprach. »Die Einladung bezog sich auf einen Musikabend drei Tage später, und er meinte, wir sollten hingehen. Es war ein Violinkonzert. Er hatte eine besondere Vorliebe für Geigenmusik. Er fand, daß der Klang der Geige einen Menschen auf eine Art und Weise anrühren könne, wie es kein anderes Musikinstrument vermochte.«
    »Also haben Sie die Einladung angenommen?« unterbrach Rathbone sie. »Im Glauben, daß er jede Absicht hatte, das Konzert zu besuchen?«
    »Ja.« Sie holte noch einmal tief Luft. »Ich habe mich später überhaupt nicht entschuldigt! Die Leute müssen mich für sehr unhöflich halten. Ich habe die Sache einfach vergessen.«
    »Wenn man Sie damals nicht verstanden hat, so bin ich mir ganz sicher, daß man es heute tun wird«, versicherte er ihr.
    »Bitte, fahren Sie fort.«
    »Angus bekam ein oder zwei Rechnungen, die den Haushalt betrafen und um die er sich kümmern wollte, wenn er wieder zurück war. Dann ist er ins Geschäft gegangen. Er sagte, er würde zum Abendessen zu Hause sein.«
    »Haben Sie ihn seither noch einmal gesehen, Mrs. Stonefield?«
    Ihre Stimme war sehr leise, beinahe ein Flüstern. »Nein.«
    »Haben Sie Nachrichten von ihm erhalten, in welcher Form auch immer?«
    »Nein.«
    Rathbone ging einen Schritt nach links und verlagerte sein Gewicht auf den anderen Fuß. Er war sich beinahe körperlich bewußt, daß Ebenezer Goode sich auf seinem Stuhl zurücklehnte ein Lächeln auf dem Gesicht und die Augen leuchtend und wachsam. Er war gelassen, zuversichtlich, aber niemals so sorglos, irgend etwas für selbstverständlich zu halten.
    Hinter der Absperrung für die Angeklagten stand Caleb Stone völlig reglos da. Sein Haar war lang und dicht und wild gelockt, so daß es den verwegenen Ausdruck seines Gesichts mit dem üppigen Mund und den strahlendgrünen Augen noch unterstrich. Gerade seine absolute Bewegungslosigkeit zog alle Blicke auf sich in einem Raum, in dem alle anderen hin und wieder nervös auf ihren Plätzen hin und her rutschten, sich an der Nase oder an einem Ohr kratzten oder sich umdrehten, um jemanden anzusehen oder mit einem Nachbarn zu tuscheln. Der einzige Mensch, der nicht einmal in seine Richtung schaute, war Genevieve, als könne sie es nicht ertragen, sein Gesicht zu sehen, welches das genaue Ebenbild ihres geliebten Mannes zu sein schien.
    »Mrs. Stonefield«, fuhr Rathbone fort. »War Ihr Mann früher schon einmal über Nacht nicht zu Hause?«
    »O ja, recht oft sogar. Seine Geschäfte machten ab und zu eine Reise notwendig.«
    »Gab es Ihres Wissens nach noch andere Gründe für seine Abwesenheit?«
    »Ja…« Sie sah ihn unverwandt an, äußerlich wie erstarrt in ihrem marineblauen und grauen Wollkleid mit den Seidenbesätzen. »Er ist regelmäßig ins East End der Stadt gefahren, nach Limehouse, um seinen Bruder zu besuchen. Er war…« Ihr schienen für den Augenblick die Worte zu fehlen.
    Caleb starrte sie an, als wollte er sie zwingen, ihm ihren Blick zuzuwenden, aber sie tat es nicht.
    Einige der Geschworenen waren da weit höflicher.
    »Er war ihm sehr zugetan?« beendete Rathbone den Satz für sie.
    Ebenezer Goode richtete sich in seinem Stuhl auf. Rathbone beeinflußte die Zeugin, aber das war nicht der richtige Zeitpunkt für ihn, um Einwände zu erheben.
    »In gewisser Weise hat er ihn geliebt«, sagte Genevieve stirnrunzelnd, wobei sie immer noch sorgfältig darauf achtete, nicht zum Angeklagten hinüberzusehen. »Ich glaube, er empfand auch eine Art Mitleid für ihn, weil…«
    Diesmal stand Ebenezer Goode wirklich auf.
    »Ja ja«, meinte der Richter und hob mit einer schnellen, beschwichtigenden Geste die Hand. »Mrs. Stonefield, was Sie glauben, ist kein Beweis, es sei denn, Sie können uns Gründe für Ihre Überzeugung nennen. Hat Ihr Mann einem solchen Gefühl Ausdruck verliehen?«
    Sie sah ihn stirnrunzelnd an. »Nein, Mylord. Aber ich hatte den Eindruck. Warum hätte er sonst immer wieder zu Caleb fahren sollen, trotz der Art und Weise, wie dieser ihn behandelte, wenn nicht aus Loyalität und einer Art Mitleid? Selbst wenn ihm schlimmste Verletzungen zugefügt wurden, hat er ihn mir gegenüber immer in Schutz genommen.«
    Der Richter, ein kleiner hagerer Mann mit einem so müden Gesicht, daß man den Eindruck hatte, er habe seit Jahren

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