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Sein Bruder Kain

Sein Bruder Kain

Titel: Sein Bruder Kain Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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jetzt mußt du mich entschuldigen, meine Liebe. Bitte, laß dich nicht von mir stören.« Und als er am Feuer vorbeikam, ließ er den Brief hineinfallen und zögerte gerade lange genug, um zuzusehen, wie die Flammen ihn zu seiner unendlichen Erleichterung vernichteten. Das Thema würde nicht noch einmal zur Sprache kommen.

9
    Vier Tage später begann vor dem obersten Gerichtshof für Straftaten im Old Bailey die Verhandlung gegen Caleb Stone. Die Vertretung der Anklage übernahm Oliver Rathbone, die Verteidigung Ebenezer Goode. Goode war ein Kronanwalt von großer Ausstrahlung und Begabung. Er hatte den Fall nicht wegen des Honorars übernommen - es gab keins -, sondern der grundsätzlichen Bedeutung der Angelegenheit und vielleicht sogar noch mehr der damit verbundenen Herausforderung wegen. Rathbone kannte ihn flüchtig. Sie waren schon früher Gegner vor Gericht gewesen. Goode war ein Mann von Mitte Vierzig, groß und ziemlich hager, aber seine hervorstechendsten Merkmale waren seine vorstehenden, sehr hellen, blaugrauen Augen und sein offenes, strahlendes Lächeln. Er verstand es zu begeistern und besaß einen höchst exzentrischen Sinn für Humor. Außerdem war er ein leidenschaftlicher Katzenliebhaber.
    Die Zuschauerplätze waren nicht so dicht besetzt wie bei einer Verhandlung gegen ein Mitglied der besseren Gesellschaft oder wegen eines Verbrechens, dessen Opfer ein schillernderer Charakter als Angus Stonefield gewesen wäre. Nichts deutete auf einen Sittenskandal hin, und anscheinend war auch kein Geld im Spiel. Und da es keine Leiche gab, mußte erst noch bewiesen werden, daß es überhaupt einen Mord gegeben hatte. Die Leute, die gekommen waren, wollten vor allem das Duell zwischen Rathbone und Goode miterleben, bei dem es darum ging, eben diese Sache zu beweisen. Beide waren Meister des Wortgefechts vor Gericht.
    Es war ein schöner, aber stürmischer Tag. Sonnenstrahlen fielen durch die Fenster und tauchten den Gerichtssaal in ein milchiges Licht, die Holzvertäfelung der Wände, den Fußboden und die geschnitzte Pracht des Richterstuhls. Die Geschworenen waren bereit, zwölf sorgfältig ausgesuchte Männer, die einen feierlichen Ernst verbreiteten. Sie waren erwiesenermaßen honorige Mitglieder der Gesellschaft und erfüllten die notwendige Bedingung finanzieller Unabhängigkeit.
    Rathbone rief seinen ersten Zeugen auf, Genevieve Stonefield Als sie durch den Gerichtssaal ging und die Stufen zum Zeugenstand erklomm, ging nur ein leises Raunen durch die Reihen der Zuschauer. Auf Rathbones Anraten trug sie nicht Schwarz, sondern eine Mischung aus Dunkelgrau und Marineblau. Ihr Kleid war schlicht, unauffällig und überaus schmeichelhaft. Sie sah müde und angespannt aus, aber die ihr innewohnende Leidenschaft und der Ausdruck von Intelligenz in ihrem Gesicht wurden dadurch noch verstärkt, und als sie sich auf der obersten Stufe umdrehte und in den Saal blickte, war das Interesse der Zuschauer geweckt. Ein Mann sog überrascht die Luft ein, und eine Frau schnalzte mit der Zunge.
    Rathbone lächelte. Genau diese Art Frau war Genevieve Stonefield. Sie rief Gefühle wach, vielleicht Neid bei den weiblichen Zuschauern, selbst wenn sie nicht recht wußten, warum. Etwas in ihr wartete noch darauf, geweckt zu werden, etwas Elementareres, als es die meisten Frauen besaßen. Er mußte allergrößte Vorsicht walten lassen. Vielleicht konnte man von Glück sagen, daß für die Geschworenenbank grundsätzlich nur Männer in Frage kamen.
    Sie wurde vereidigt und gab Namen und Adresse an, wobei sie Rathbone ernst ansah, als wäre außer ihm niemand im Saal. Nicht ein einziges Mal irrten ihre Augen zu den Geschworenen oder dem Richter hinüber, ja nicht einmal den Gerichtsbeamten, der ihr die Bibel gab, sah sie an.
    Rathbone erhob sich und ging auf den Zeugenstand zu, blieb aber ein kleines Stück davor stehen, damit er sich nicht den Hals verrenken mußte, um sie ansehen zu können. Dann begann er in gelassenem Tonfall seine Befragung.
    »Mrs. Stonefield, würden Sie dem Gericht bitte alles erzählen, was Ihnen über die Ereignisse an dem letzten Tag, an dem Sie Ihren Mann gesehen haben, in Erinnerung geblieben ist? Beginnen Sie mit Ihrer Unterhaltung beim Frühstück.«
    Sie holte tief Luft, und in ihrer Stimme lag nur ein kaum merkliches Zittern, als sie antwortete.
    »Es war nichts Besonderes in der Post gewesen«, sagte sie.
    »Einige Briefe von Freunden, eine Einladung…« Sie hielt inne und konnte sich nur mit

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