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Sein Bruder Kain

Sein Bruder Kain

Titel: Sein Bruder Kain Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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wäre.
    Insgesamt war es ein überaus unerfreulicher Abend, und sie ging früh nach Hause, verwirrt und aus der Fassung gebracht, und sie hatte nicht ein Wort von dem gesagt, was sie hatte sagen wollen.
    Rathbone betrat am dritten Tag der Verhandlung den Gerichtssaal von Old Bailey mit kaum mehr Zuversicht als zu Beginn des Prozesses, aber seine Entschlossenheit war unvermindert. Er hatte gehofft, daß die Polizei Angus' Leiche finden würde, da sie sich dieser Aufgabe mit ihrer ganzen Kraft gewidmet hatte, aber ihm war von Anfang an klar gewesen, daß die Erfolgsaussichten in dieser Hinsicht gering waren. Es gab so viele andere Möglichkeiten, und Calebs höhnisches Verhalten Monk gegenüber, als dieser ihn in den Sümpfen von Greenwich gestellt hatte, hätte ihm eine Warnung sein müssen. Er hatte gesagt, daß sie Angus niemals finden würden.
    Während der Richter den Saal betrat und seinen Platz einnahm und auch das letzte Getuschel verstummte, schaute Rathbone zu Caleb hinüber, und wieder sah er den höhnischen Ausdruck in seinem Gesicht, die Gewalttätigkeit, die so dicht unter der Oberfläche lag. Jede Faser seines Körpers verriet Arroganz.
    »Sind Sie bereit fortzufahren, Mr. Rathbone?« fragte der Richter. War da eine Spur von Mitleid in seinem Gesicht, als glaube er, Rathbone könne nicht gewinnen? Er war ein ziemlich kleiner Mann mit einem hageren Gesicht voll feiner Linien, das einst kämpferisch gewesen war, jetzt aber müde wirkte.
    »Ja, wenn das Gericht damit einverstanden ist, Mylord«, antwortete Rathbone. »Ich rufe Albert Swain in den Zeugenstand.«
    »Albert Swain!« wiederholte der Gerichtsdiener laut. »Albert Swain in den Zeugenstand!«
    Swain, ein großer, linkischer Mann, der so stark nuschelte, daß er beinahe jedes Wort wiederholen mußte, erzählte dem Gericht, daß er Caleb am Tag von Angus' Verschwinden gesehen habe, zerschunden und mit übel zugerichteter Kleidung. Ja, er glaube, es sei Blut gewesen. Ja, sein Gesicht war verschrammt und geschwollen, und er hatte eine Schnittwunde an der Wange. Welche anderen Verletzungen hatte der Mann sonst noch? Das konnte er nicht sagen. Er hatte nicht genau hingesehen.
    Hatte er den Eindruck gehabt, daß Caleb humpelte oder sich bewegte, als bereite ihm irgendein Körperteil Schmerzen?
    Daran konnte er sich nicht mehr erinnern.
    Geben Sie sich mehr Mühe, drängte Rathbone ihn. Ja, Caleb hatte gehumpelt.
    Auf welchem Bein?
    Swain hatte keine Ahnung. Er glaubte, es sei das linke gewesen. Oder das rechte.
    Rathbone dankte ihm.
    Ebenezer Goode erhob sich, spielte mit dem Gedanken, den Mann mit wenigen Sätzen zu vernichten, und kam zu dem Ergebnis, daß es unhöflich gewesen wäre. Grausamkeit zahlte sich selten aus und ging außerdem gegen seine Natur.
    Und überraschenderweise ließ sich der Zeuge, nachdem er seine Aussage gemacht hatte, nicht mehr davon abbringen. Er hatte ganz eindeutig gesehen, daß Caleb Stone in einem Kampf verwickelt gewesen war, und das war kein Irrtum. Er würde nichts hinzufügen. Er würde sich nicht beirren lassen. Er zog keine Schlüsse. Er war absolut sicher, daß es sich um den richtigen Tag handelte. Er hatte zwei Shilling verdient und sich seine Wolldecke vom Pfandleiher zurückgeholt. Das war ein Ereignis, das er nicht so leicht vergessen würde.
    Zur Belohnung bekam er ein Nicken vom Richter und einen traurigen Seufzer vom Sprecher der Geschworenen.
    »Äh, wirklich«, meinte Goode zum Schluß. »Vielen Dank, Mr. Swain. Das wäre alles.«
    Rathbone rief seine letzte Zeugin auf, Selina Herries. Sie kam erklärtermaßen gegen ihren Willen, und nachdem sie den Zeugenstand betreten hatte, umklammerte sie das Geländer, mit steifem Rücken, den Kopf hoch erhoben. Sie trug ein tristes, graubraunes Kleid von einfachem Stoff, schicklichem und sittsamem Schnitt und sie hatte sich einen Schal umgelegt, so daß man in bezug auf ihre Taille nur Vermutungen anstellen konnte. Ihr Häubchen verbarg den größten Teil ihres Haars. Trotzdem war ihr Gesicht genau zu sehen, und nichts konnte von der Kraft und dem Kampfgeist, die die hohen Wangenknochen verrieten, ablenken, von den kühnen Augen und dem großzügigen Mund. Trotz der Tatsache, daß sie Angst hatte und sich zutiefst gegen das vor ihr Liegende sträubte, sah sie Rathbone direkt an und wartete ab, was er sagen würde.
    Auf ihrem Platz auf den Zuschauerbänken drehte Genevieve sich langsam und widerstrebend um, um sie anzusehen. In irgendeiner Weise war dies ihr

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