Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sein Bruder Kain

Sein Bruder Kain

Titel: Sein Bruder Kain Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
Vom Netzwerk:
Schmerz und Triumph.
    Auch Ebenezer Goode befragte die Zeugen, um klarzustellen, wie dürftig ihre Beweise waren. Das Bild blieb bruchstückhaft, verzerrt, trügerisch. Aber er konnte nichts gegen das unaufhörlich stärker werdende Gefühl von Haß ausrichten, nichts gegen die Überzeugung, daß Angus Stonefield tot war und daß der Mann auf der Anklagebank, der soviel unterdrückte Gewalttätigkeit ausstrahlte, den Tod seines Bruders, auf welche Weise auch immer, herbeigeführt hatte.

10
    Nachdem er seine Aussage gemacht hatte, verließ Monk das Gerichtsgebäude. Es gab dort nichts für ihn zu tun, und seine innere Angst trieb ihn dazu, weiter nach der Wahrheit über Drusilla Wyndham zu suchen. Es ging nicht länger darum, was sie tun konnte, um seinem Ruf zu schaden und ihn seines Lebensunterhalts zu berauben, es ging um die Frage, was für ein Mensch er war, daß sie ihm so etwas antun wollte, etwas, das von ihr selbst einen solchen Preis forderte.
    Sie hatte ihn beschuldigt, über sie hergefallen zu sein und versucht zu haben, sie zu vergewaltigen. War es möglich, daß er, obwohl er es diesmal ganz gewiß nicht getan hatte, bei irgendeiner früheren Gelegenheit nicht so unschuldig gewesen war?
    Der Gedanke stieß ihn ab. Er konnte sich nicht vorstellen, daß es ihm ein wie auch immer geartetes Vergnügen bereitet hätte, eine Frau gegen ihren Willen zu nehmen. Es wäre ihm demütigend erschienen, und zwar für beide Seiten, ohne Zärtlichkeit oder Würde und ohne die Anteilnahme des Geistes, ohne irgendeine Gemeinsamkeit außer dem primitivsten körperlichen Kontakt, und im Anschluß daran die Scham und das Bedauern über das Vorgefallene.
    Hatte er so etwas wirklich getan?
    Nur wenn er zu jener Zeit ein vollkommen anderer Mensch gewesen war.
    Aber die Angst quälte ihn, weckte ihn des Nachts mit einem Würgen in der Kehle und einem jähen Frösteln auf. Vielleicht war die Angst genauso schlimm wie die Wirklichkeit?
    Nachdem er Old Bailey verlassen hatte, ging er direkt zu Evan. Er mußte die Unterlagen selbst einsehen, auch wenn er sich zu diesem Zweck nach Dienstschluß in das Polizeirevier als Zeuge oder als Verdächtiger in irgendeinem Fall hineinschmuggeln lassen mußte. Er wollte die Akten all jener seiner früherer Fälle studieren, die irgend jemandem Tod oder Ruin gebracht hatten.
    Wieder mußte er auf Evan warten. Er ging unruhig auf und ab, außerstande, sich hinzusetzen; seine Phantasie quälte ihn mit Schreckensbildern.
    Der diensthabende Polizist sah ihn mit einem gewissen Mitleid an.
    »Sie sehen sehr mitgenommen aus, Mr. Monk«, bemerkte er.
    »Wenn die Sache wirklich dringend ist, kann ich Ihnen sagen, wo Mr. Evan sich aufhält.«
    »Ich wäre Ihnen wirklich sehr dankbar«, erwiderte Monk. Er versuchte dem Mann zuzulächeln, aber er wußte, daß er nicht mehr als eine Grimasse zustande brachte.
    »Great Coram Street Nummer fünfundzwanzig, direkt hinter dem Brunswick Square. Schätze, Sie wissen, wo das ist?«
    »O ja.« Das war gegenüber dem Mecklenburg Square, wo sie die Leiche des Mannes gefunden hatten, den er vor seinem Unfall beinahe eigenhändig getötet hätte. Das würde er nie vergessen. »Ja, ich weiß Bescheid, vielen Dank.« Wie ein Blitz aus heiterem Himmel fiel ihm plötzlich der Name des Sergeants ein. »Parsons.«
    Das Gesicht des Mannes leuchtete auf. Ihm war nicht klar gewesen, daß Monk sich an ihn erinnerte.
    »Gern geschehen, Sir. Ganz bestimmt.«
    Monk stürzte aus dem Revier und hielt am Ende der Straße einen Hansom an, schwang sich hinauf und rief dem Fahrer die Adresse zu, noch bevor er sich auf den Sitz geworfen hatte.
    Anschließend blieb ihm nichts anderes übrig, als in dem eisigen Wind auf der Great Coram Street zu warten, bis Evan seine Arbeit dort beendet hatte, aber als er aus dem Haus trat, erkannte er Monk sofort, vielleicht deshalb, weil Männer, die sich so kleideten, wie er es tat, selten an einem kalten Februartag untätig auf dem Gehsteig herumstanden.
    »Ich habe die Lösung!« sagte er triumphierend, während er mit langen Schritten auf ihn zukam. Er zog die Schultern hoch und seinen Mantel enger um sich; er zitterte ein wenig, aber sein Gesicht strahlte im Bewußtsein seines Erfolgs.
    Eine jähe Atemlosigkeit überfiel Monk, eine Hoffnung, die so schmerzlich war, daß sie ihn beinahe erstickte. Er mußte schlucken, bevor er sprechen konnte.
    »Die Lösung?« Er wagte es nicht einmal, durchblicken zu lassen, daß er Evans Bemerkung auf Drusilla

Weitere Kostenlose Bücher