Sein Bruder Kain
sie eine Schlange angesehen hätte.
»Hm.« Es war ein halbes Eingeständnis, und auch das hatte sie nur widerwillig gegeben. Ihre Stimme warnte ihn, daß sie nicht viel weiter gehen würde.
Rathbone lächelte. »Mr. Arbuthnot hat ausgesagt, daß Sie Angus in seinem Geschäft aufgesucht und ihn auch am Tag seines Verschwindens gesehen hätten. Ist das richtig?«
Ihr Gesicht verkrampfte sich vor Zorn. Es gab keinen Ausweg mehr.
»Ja…«
»Warum?«
»Was?«
»Warum?« wiederholte er. »Warum haben Sie Angus Stonefield aufgesucht?«
»Weil Caleb mich zu ihm geschickt hat.«
»Was ist zwischen Ihnen vorgefallen?«
»Nichts!«
»Ich meine, was haben Sie zu ihm gesagt, und was hat er zu Ihnen gesagt?«
»Oh. Weiß ich nicht mehr.« Es war eine Lüge, und jeder wußte das. Das leise Gemurmel der Zuschauer, das leichte Kopfschütteln der Geschworenen, der schnelle Blick des Richters, der von Selina zu Rathbone wanderte - das alles sprach eine deutliche Sprache.
Auch Selina sah es, aber sie glaubte, Rathbone besiegt zu haben.
Rathbone steckte die Hände in die Taschen und sah sie freundlich an.
»Wenn ich dann also behaupten würde, daß Sie ihm die Nachricht überbracht haben, daß Caleb ihn dringend sprechen wolle, noch am selben Tag, und daß er wünsche, sein Bruder solle sofort in die Schenke namens Polly House kommen oder ins Artichoke, dann könnten Sie nicht mit Sicherheit behaupten, daß es anders gewesen sei?«
»Ich…« In ihren Augen blitzte entschlossener Trotz auf, aber sie saß in der Falle. Es war ihr verhaßt, sich in Widersprüche zu verwickeln oder Entschuldigungen zu erfinden, die auf sie zurückfallen konnten. Sie war ihm einmal in die Falle gegangen.
»Vielleicht hat das Ihr Gedächtnis ein wenig aufgefrischt?« fragte Rathbone, wobei er sorgsam darauf achtete, daß kein Sarkasmus aus seiner Stimme klang.
Sie sagte nichts, aber er hatte einen kleinen Sieg errungen, was er an den Gesichtern der Geschworenen ablesen konnte. Wenn ihnen erst einmal klarwurde, daß sie bereit war, zu Ausflüchten zu greifen, ja sogar zu lügen, um Caleb zu schützen, würde das alles, was sie vielleicht noch zu seiner Verteidigung vorbringen konnte, in ein anderes Licht rücken.
»Haben Sie Angus Stonefield später an jenem Tag noch einmal gesehen, Miss Herries?« nahm Rathbone den Faden wieder auf. Sie sagte nichts.
»Sie müssen die Frage beantworten, Miss Herries«, warnte der Richter sie. »Wenn Sie das nicht tun, werde ich Sie wegen Mißachtung des Gerichts festnehmen lassen. Das bedeutet, ich kann Sie so lange ins Gefängnis stecken, bis Sie bereit sind zu antworten. Und natürlich steht es den Geschworenen frei, Ihr Schweigen in jeder Art zu deuten, wie es ihnen beliebt. Haben Sie mich verstanden?«
»Ich habe ihn gesehen«, sagte sie heiser und schluckte. Sie starrte vor sich hin und hielt ihren Kopf so steif, daß sie nicht einmal aus den Augenwinkeln sehen konnte, wie Caleb sich über das Geländer der Anklagebank beugte und sie anstarrte.
Rathbone heuchelte Interesse, als hätte er keine Ahnung von dem, was sie sagen würde.
Jetzt herrschte absolute Stille im Saal. »Im Polly«, sagte sie verdrossen. »Was hat er da getan?«
»Nichts.«
»Nichts?«
»Er hat einfach nur rumgestanden und auf Caleb gewartet, nehme ich an. Ich habe ihm gesagt, daß er ihn dort treffen würde.«
»Haben Sie auch gesehen, wie Caleb angekommen ist?«
»Nein.«
»Aber er hat Ihnen doch gesagt, daß er die Absicht hätte, dort hinzukommen?«
»Er hat es nicht eigens erwähnt. In der Taverne hat er sich immer mit Angus getroffen. Immer am gleichen Ort. Ich habe die beiden nicht einmal zusammen gesehen, und ich habe sie nie streiten gesehen, und das ist die Wahrheit, ob Sie mir glauben oder nicht!«
»Ich glaube Ihnen, Ma'am«, räumte Rathbone ein. »Aber haben Sie Caleb irgendwann später an diesem Tag gesehen?«
»Nein, habe ich nicht.«
Einer der Geschworenen schüttelte den Kopf, ein anderer hustete verstohlen in sein Taschentuch. Auf den Zuschauerbänken entstand eine leichte Unruhe.
Rathbone wandte sich vom Zeugenstand ab. Sein Blick suchte den Ebenezer Goodes, und er sah, wie sein Gegner ein wenig kläglich lächelte. Der Fall stand immer noch auf des Messers Schneide, aber wie unfreiwillig auch immer, so konnte Selina mit ihrer Aussage doch alles liefern, was nötig war, um das Gleichgewicht zu Calebs Ungunsten zu verschieben. Goode hatte nur wenig, was er in die Waagschale werfen konnte, und es
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