Sein Bruder Kain
Spiegelbild, zumindest in manchen Punkten. Das war die Frau, die den Mann, der Angus getötet hatte, liebte. Ihrer beider Leben verliefen so unterschiedlich. Genevieve war Witwe, aber Selina stand ebenfalls kurz davor, einen schweren Verlust zu erleiden, der sie vielleicht noch schlimmer treffen würde als Genevieve.
Rathbone blickte von einer Frau zur anderen und bemerkte eine unüberbrückbare Kluft zwischen ihnen und doch auch einen Funken desselben Muts und Trotzes.
Er konnte nicht umhin, auch Caleb anzusehen. Würde der Anblick Selinas so etwas wie Bedauern in ihm wecken, Verständnis nicht nur für Genevieves Lage, sondern auch die Erkenntnis, wie hoch der Preis war, den er selbst würde zahlen müssen? Hatte dieser Mann überhaupt so etwas wie menschliche Eigenschaften in sich, Sanftheit oder das Bedürfnis nach Geborgenheit?
Was er sah, als Caleb sich über das Geländer beugte, seine gefesselten Hände auf das Holz gestützt, war tiefste Verzweiflung, jene absolute Hoffnungslosigkeit, die sich einstellt, wenn man seine Niederlage erkennt oder zu kämpfen aufgehört hat.
Als dann auf den Zuschauerbänken Lord Ravensbrook eine Bewegung machte und Caleb ihn erblickte, kehrte der alte unversöhnliche Haß zurück und mit ihm der Wille zu kämpfen.
»Mr. Rathbone?« Der Richter wollte die Verhandlung wieder eröffnen.
»Ja, Mylord.« Er drehte sich zum Zeugenstand um. »Miss Herries«, begann er. Er stand ein wenig breitbeinig in dem freien Raum vor der Richterbank. »Sie wohnen in der Manila Street auf der Isle of Dogs, ist das richtig?«
»Ja, Sir.« Sie würde nicht ein einziges Wort mehr sagen als unbedingt nötig war.
»Sie sind mit dem Angeklagten, Caleb Stone, bekannt?« Ihr Blick blieb ruhig, sie sah nicht zu Caleb hinüber.
»Ja, Sir.«
»Wie lange kennen Sie ihn jetzt?«
»Ungefähr…« Sie zögerte. »Sechs, sieben Jahre, schätze ich.« Sie schluckte nervös und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.
»Sechs oder sieben Jahre ist präzise genug.« Rathbone lächelte und versuchte, ihr ein wenig Selbstsicherheit zu geben.
»Wie oft sehen Sie ihn? Ungefähr?« Ihr Gesicht umwölkte sich, und er beeilte sich, ihr zu Hilfe zu kommen. »Jeden Tag? Oder vielleicht einmal die Woche? Oder einmal im Monat?«
»Er kommt und geht«, sagte sie vorsichtig. »Manchmal bleibt er zwei oder drei Tage, und dann ist er wieder weg. Vielleicht wochenlang, vielleicht kürzer. Das kann man nie wissen.«
»Ich verstehe. Aber im Laufe der Jahre haben Sie ihn gut kennengelernt?«
»Das kann man wohl sagen…«
»Ist er Ihr Liebhaber, Miss Herries?«
Ihr Blick flog kurz zu Caleb hinüber, dann schaute sie schnell wieder weg.
Ihrem Gesicht war keine Regung zu entnehmen. Ein Geschworener runzelte die Stirn. Jemand in der Menge kicherte.
»Soll ich die Frage anders formulieren?« erbot sich Rathbone.
»Sind Sie seine Frau?«
Caleb grinste, und seine grünen Augen leuchteten auf. Es war unmöglich festzustellen, was er dachte, oder auch nur zu ermitteln, ob dieser angespannte, beinahe wölfische Gesichtsausdruck Belustigung oder eine unausgesprochene Drohung bedeutete.
Selina hob ihr Kinn ein kleines Stück höher. Sie vermied es, irgend jemanden außer Rathbone anzusehen.
»Ja, so ist es.«
»Vielen Dank für Ihre Offenheit, Ma'am. Ich denke, wir können davon ausgehen, daß es niemanden gibt, der ihn besser kennt als Sie?«
»Könnte sein.« Sie war nach wie vor vorsichtig.
Es herrschte beinahe völlige Stille im Saal, nur ein oder zwei Leute bewegten sich. Selina gab nur das zu Protokoll, was ohnehin auf der Hand lag.
Rathbone war sich dessen bewußt. Sie war seine letzte Zeugin und seine letzte Chance. Aber trotz all ihrer Furcht vor dem Gericht würde sie Caleb nicht verraten. Nicht nur wegen ihrer Gefühle für diesen Mann und der Erinnerung an Augenblicke der Vertrautheit, sondern weil seine Rache, falls man ihn für nicht schuldig befand, schrecklich sein würde. Hinzu kam, daß sie auf der Isle of Dogs lebte; das war ihr Zuhause, und dort waren die Menschen, zu denen sie gehörte. Sie würden kein Verständnis haben für eine Frau, die ihren Mann verriet, ob nun aus Geldgier oder aus Angst um sich selbst. Welchen Preis das Gericht auch für ihre Loyalität fordern mochte, die Strafe für einen Vertrauensbruch mußte weit schlimmer sein. Es war eine Frage des Überlebens.
»Haben Sie auch seinen Bruder Angus gekannt?« fragte Rathbone mit hochgezogenen Augenbrauen.
Sie starrte ihn an, wie
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