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Sein Bruder Kain

Sein Bruder Kain

Titel: Sein Bruder Kain Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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bezog, für den Fall, daß er sich irrte. Vielleicht hatte Evan lediglich von einer Entdeckung bezüglich seiner gegenwärtigen Nachforschungen gesprochen. Es fiel Monk sehr schwer, sich daran zu erinnern, daß es noch andere Fälle gab, andere Verbrechen, andere Menschen mit anderen Problemen.
    »Ja, ich denke schon.« Evan schränkte seine selbstsichere Behauptung ein wenig ein, während er behende vom Straßenrand wegsprang, als eine Kutsche vorbeiratterte. »Im Zusammenhang mit einem der Fälle ist der Name Buckingham aufgetaucht.« Er berührte Monk am Arm und ging durch die Great Coram Street auf den großen Platz mit seinen kahlen Bäumen zu. Der Wind wehte ihnen eisig ins Gesicht. »Der Grund, warum ich so lange gebraucht habe, um darauf zu stoßen«, fuhr er fort, »ist der, daß es sich überhaupt nicht um ein Kapitalverbrechen gehandelt hat, nur um eine Veruntreuung, und nicht einmal um eine besonders schwerwiegende.«
    Monk sagte nichts. Ihre Schritte hallten von den kalten Steinen wider. Es ergab keinen Sinn, zumindest bisher nicht.
    »Ein gewisser Reginald Sallis hat Kirchenmittel veruntreut«, fuhr Evan mit seinem Bericht fort. »Eine Sache von zwanzig Pfund oder so, aber es wurde der Polizei gemeldet, und man hat Nachforschungen angestellt. Es war sehr unerfreulich, weil das Geld aus einem Waisenfonds stammte und der Verdacht auf eine Menge Leute fiel, bevor der Schuldige gefunden wurde.«
    »Aber er wurde gefunden und überführt?« fragte Monk drängend. »Wir haben nicht den falschen Mann erwischt?«
    »O nein«, versicherte Evan ihm, während er versuchte, mit ihm Schritt zu halten. »Es war eindeutig der richtige Mann. Gute Familie, aber ein bißchen leichtlebig. Attraktiver Bursche, wie es aussieht, oder zumindest hatte er eine glückliche Hand bei Frauen.«
    »Wieso sagen Sie das?« fragte Monk schnell. Sie hatten den Platz erreicht und gingen über den Rasen auf den Landsdowne Place und das Foundling Hospital zu, das direkt vor ihnen lag. Sie mußten um das Gebäude herumgehen, um in die Guildford Street zu gelangen.
    »Der Beweis für seine Schuld wurde von zwei jungen Damen sehr sorgfältig verborgen gehalten; beide waren anscheinend in ihn verliebt«, antwortete Evan. »Das heißt, um genauer zu sein, eine von ihnen empfand wohl sehr tief für den jungen Mann, während die andere, ihre Schwester, nur mit ihm geflirtet hat.«
    »Aber das erklärt überhaupt nichts!« sagte Monk verzweifelt, während er sich an einem Husaren in Uniform vorbeidrängte.
    »Eine romantische Rivalität zwischen zwei Schwestern, eine unbedeutende Unterschlagung, für die ein junger Lump… Was hat er bekommen? Ein Jahr? Fünf Jahre?«
    »Zwei Jahre«, antwortete Evan, aber sein Gesicht wirkte plötzlich angespannt, und in seinen Augen leuchtete tiefes Mitleid auf. »Aber er ist in Coldbath Fields an Flecktyphus gestorben. Er war kein besonders angenehmer junger Mann, er hat der Kirche Geld gestohlen, das für wohltätige Zwecke bestimmt war, aber er hat es nicht verdient, allein und elend im Gefängnis dafür zu sterben.«
    »War das meine Schuld?« Monk verspürte ebenfalls Mitleid. Er hatte das Gefängnis Coldbath Fields gesehen und hätte keinem menschlichen Wesen ein solches Schicksal gewünscht. Er konnte sich an die Kälte erinnern, die sich in die Knochen fraß, an die Feuchtigkeit der Wände, als weinten sie Tag und Nacht, an den Geruch von Moder und düstere Orte, in die niemals ein Hauch von frischer Luft drang. Man konnte die Verzweiflung dort förmlich schmecken. Wenn er die Augen schloß, sah er die Männer vor sich, mit kahlrasierten Köpfen, die mörderischen Anstrengungen ausgesetzt waren; tagein, tagaus mußten sie endlos, sinnlos Kanonenkugeln von einem Ort zum anderen schaffen, immer im Kreis herum. Und dann die Tretmühle, jene Käfige, die unter dem treffenden Namen »Schwanzschleifer« bekannt waren. Die erzwungene Stille, in der jede menschliche Äußerung verboten war, hallte ihm in den Ohren wider.
    »War das meine Schuld?« fragte er noch einmal mit plötzlicher Heftigkeit. Er zwang Evan zum Stehenbleiben, indem er seinen Arm packte und so fest hielt, daß der andere Mann zusammenzuckte und ihn erschrocken ansah.
    »Es war Ihr Werk«, sagte Evan, ohne seinem Blick auszuweichen. »Aber der Mann war schuldig. Das Urteil war Sache des Richters, damit hatten Sie nichts zu tun. Was Drusilla Buckingham Ihnen nicht vergeben hat, denke ich, ist die Tatsache, daß Sie sie benutzt haben, um an

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