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Sein Bruder Kain

Sein Bruder Kain

Titel: Sein Bruder Kain Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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würde ein gewagtes Spiel sein, Caleb selbst in den Zeugenstand zu rufen. Nicht einmal Goode konnte wissen, was dann passieren würde. Der Mann war tollkühn und wurde von so starken Gefühlen getrieben, daß es gefährlich war.
    Rathbone drehte sich um seine eigene Achse, bevor er Selina wieder ansah. Sein Blick fiel dabei kurz auf Hester, die ziemlich weit vorne saß, neben Enid Ravensbrook, die blaß und angespannt aussah. Ihr Gesicht war voller Mitleid und verriet Spuren des schrecklichen Wartens auf einen endgültigen Beweis, während sie dem Augenblick immer näher kamen, in dem der Haß und die Eifersucht vieler Jahre zu guter Letzt in Mord mündeten.
    Caleb hatte das Haus bereits verlassen, als sie Milo Ravensbrook heiratete, aber sie mußte trotzdem etwas für ihn empfunden haben, schon um ihres Mannes willen, der so viel für die beiden Jungen getan hatte.
    Ganz gewiß aber kannte sie Angus und Genevieve und wußte nur allzugut um deren tragisches Schicksal.
    Milo Ravensbrook saß an ihrer anderen Seite, sein Gesicht war so bleich, daß es beinahe blutleer schien, und seine dunklen Augen und geraden Brauen wirkten wie schwarze Pinselstriche auf grauweißem Wachs. Konnte ein Mensch sich einer grauenvolleren Enthüllung gegenübersehen als der, daß das eine Kind das andere getötet hatte? Es würde ihm nichts mehr bleiben.
    Aber hätten sie, nachdem Angus' blutbefleckte Kleider erst einmal gefunden worden waren, irgend etwas anderes tun, einen anderen Weg einschlagen können?
    Enid wandte sich ihm zu, und ihre Miene verriet eine Mischung aus Schmerz und der beinahe sicheren Erwartung, verletzt zu werden, als wisse sie bereits, daß er eine solche Vertraulichkeit zurückweisen würde, und konnte doch nicht umhin, es wenigstens zu versuchen. Sie legte ihre Hand auf seinen Arm. Selbst von seinem Platz aus konnte Rathbone erkennen, wie dünn ihre Finger aussahen. Es waren erst dreieinhalb Wochen vergangen, seit sie die Krise ihrer Krankheit überwunden hatte.
    Ravensbrook saß immer noch wie erstarrt da, als bemerke er ihre Gegenwart nicht einmal.
    Es herrschte völlige Stille im Saal.
    Rathbone richtete seinen Blick wieder auf Selina.
    »Miss Herries, wann haben Sie Caleb wiedergesehen? Denken Sie gut nach, bevor Sie antworten. Ein Irrtum in dieser Sache könnte Sie einen hohen Preis kosten.«
    Ebenezer Goode erhob sich halb, kam dann aber zu der Einsicht, daß er mit einem Einspruch nichts erreichen würde. Rathbone hatte sich zu vorsichtig ausgedrückt, als daß man seine Worte für eine Drohung halten konnte. Er ließ sich wieder auf seinen Platz sinken.
    In der Menge ließ jemand einen Regenschirm fallen, versuchte ihn wieder aufzuheben und ließ ihn dann dort, wo er lag. »Miss Herries?«
    Selina starrte Rathbone an, und er erwiderte ihren Blick so konzentriert, als könne er ihre Gedanken und Ängste lesen und sie gegeneinander abwägen.
    Der Richter hob die Hände und faltete sie dann wieder.
    »Am nächsten Tag«, antwortete Selina beinahe unhörbar.
    »Hat er Angus erwähnt?«
    »Nein…« Ihre Stimme war ein Flüstern.
    »Würden Sie bitte etwas lauter sprechen, damit wir Sie hören können, Miss Herries«, ermahnte sie der Richter.
    »Nein.«
    »Überhaupt nicht?« bedrängte Rathborne sie.
    »Nein.«
    »Und er hat nicht gesagt, daß er ihn getroffen hätte?«
    »Nein.«
    »Und Sie haben nicht gefragt?« Rathbone gestattete es sich, die Augenbrauen in die Höhe zu ziehen. »War es Ihnen egal? Sie überraschen mich. Ging es nicht um das Geld für die Miete Ihrer Unterkunft, das Angus mitbringen sollte? Das muß doch eine ausgesprochen wichtige Sache für Sie gewesen sein?«
    »Ich habe die Nachricht überbracht«, sagte sie tonlos. »Alles andere ging mich nichts an.«
    »Und er hat es Ihnen nicht erzählt? Um Sie zu beruhigen, zum Beispiel? Wie ungehobelt von ihm. Vielleicht hatte er aber auch einfach schlechte Laune.«
    Diesmal stand Ebenezer Goode tatsächlich auf.
    »Mylord, mein gelehrter Freund macht da einige Andeutungen, für die er keine Gründe hat und die lediglich auf Spekulationen beruhen…«
    »Ja, ja.« Der Richter gab ihm recht. »Mr. Rathbone, bitte, beeinflussen Sie Ihre Zeugin nicht mit solchen Bemerkungen. Sie müßten es eigentlich besser wissen. Stellen Sie Ihre Fragen, und kommen Sie zum Ende.«
    »Mylord.« Er wandte sich wieder der Zeugin zu.
    »Miss Herries, hatte Caleb schlechte Laune, als Sie ihn wiedersahen?«
    »Nein.«
    »War er vielleicht ein wenig

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