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Sein Bruder Kain

Sein Bruder Kain

Titel: Sein Bruder Kain Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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ihre nächsten Worte etwas abzumildern, obwohl Genevieve mit dem Rücken zu ihr stand.
    Jetzt aber drehte Genevieve sich mit dem Messer in der Hand um. »Worum geht es? Was sonst könnte noch passiert sein?«
    »Nichts. Es ist nur noch nicht alles vorbei. Wir kennen die Wahrheit nicht, nicht die ganze Wahrheit…«
    »Die werden wir niemals erfahren«, sagte Genevieve traurig, warf einen kurzen Blick auf den Kessel, der auf dem Herd stand, und machte sich dann daran, die nächste Kartoffel zu schälen.
    »Aber ich glaube, selbst wenn Caleb noch am Leben wäre, hätten wir nicht mehr erfahren. Das einzige, was ich mir erhofft habe, war, daß die Behörden akzeptieren würden, daß Angus tot ist. Ich hätte damit leben können, wenn das Gericht Caleb nicht schuldig gesprochen hätte, so ungerecht das auch gewesen wäre.«
    »Was für ein Mensch war Angus?« sagte Hester plötzlich mit drängender Stimme. »Wie konnte Caleb ihm noch immer am Herzen liegen, obwohl er ihn so sehr haßte? Warum ist er immer wieder ins East End gegangen? Welche Ehrenschuld aus der Kindheit oder welche Schuld hat ihn an jemanden gekettet, der ihn so leidenschaftlich haßte, daß er ihn am Ende tötete?«
    Genevieve stand einige Sekunden lang wie erstarrt, legte dann das Messer zur Seite und trat an den großen schwarzen Kochherd. Der Kessel bekann zu dampfen. Sie nahm eine schwarzweiße Porzellanteekanne aus dem Schrank, spülte sie mit kochendem Wasser aus, füllte dann Tee aus einer Büchse hinein und goß den Rest des Wassers aus dem Kessel in die Kanne und ließ den Tee ziehen. Dann stellte sie zwei Tassen auf den Tisch und holte Milch aus der Speisekammer.
    »Ich weiß es nicht«, sagte sie schließlich. »Ich weiß es wirklich nicht. Manchmal dachte ich, daß er Caleb genauso haßte wie dieser ihn, und ich bat ihn, nie wieder zu ihm zu gehen.« Sie setzte sich auf den Stuhl gegenüber und schenkte den Tee aus. »Aber manchmal tat er ihm auch leid, ja, und vielleicht fühlte er sich wirklich ein wenig schuldig. Obwohl er keinen Grund dazu hatte. Caleb hätte alles haben können, was er hatte, wenn er es nur gewollt hätte. Schließlich war kein Erbe im Spiel, um das Angus Caleb hätte bringen können.«
    »Ihre Eltern haben ihnen nichts hinterlassen?« Genevieve schüttelte den Kopf.
    »Wenn etwas da war, ist es schon vor langer Zeit aufgebraucht worden. Möchten Sie Milch? Angus hat jedenfalls sein Geschäft aufgebaut, indem er einer Firma beitrat, wie es jedem jungen Mann freisteht.« Sie reichte ihr die Tasse. »Caleb hätte dasselbe tun können, nur daß er so leichtsinnig war und so nachlässig in seinen Studien, daß er aus eigenem Verschulden zu nichts zu gebrauchen war. Aber auch das war seine Entscheidung.« Sie sah Hester an. »Manchmal glaube ich, Caleb tat Angus leid, und manchmal wußte ich auch, daß er Angst vor ihm hatte.«
    Hester nahm den Tee und dankte ihr. Er war heiß und frisch.
    »Es hat Angus viel Mut gekostet, nach Limehouse zurückzukehren und Caleb aufzusuchen«, fuhr Genevieve fort, »nachdem er ihn schlimm verletzt hatte - und das ist mehr als einmal vorgekommen. Er war immer müde und niedergeschlagen, und ich habe ihn gebeten, nicht wieder hinzugehen. Es war auch nicht so, als hätte Caleb ihn gern gehabt oder wäre Angus für seine Hilfe auch nur dankbar gewesen. Das alles hat mich so wütend gemacht… und auch das hat ihn natürlich bedrückt. Er sagte, er könne nicht dagegen an. Caleb sei sein Bruder, sein Zwilling, und sie wären durch ein Band, das er nicht zerreißen könne, aneinandergekettet. Als mir klarwurde, wie sehr ihn die Angelegenheit schmerzte, habe ich aufgehört, darüber zu sprechen.«
    Sie senkte den Blick, und in ihren Augen schwammen Tränen.
    »Wenn Sie Angus gekannt hätten, hätten Sie mich verstanden. Er besaß eine Güte und einen Anstand, wie ich ihn bei niemandem sonst gesehen habe. Der einzige Mann, der über ein genauso freundliches Wesen verfügt und über eine ähnliche Liebe zu allem, was gut und schön ist auf dieser Welt, ist Mr. Niven. Ich glaube, das ist der Grund, warum die beiden Freunde waren und warum ich das Gefühl habe, mich jetzt ihm zuwenden zu können. Angus hätte das verstanden.«
    Es gab nichts mehr herauszufinden außer einigen Tatsachen, und Hester war nicht einmal sicher, welchen Nutzen diese hatten.
    Trotzdem fragte sie Genevieve, in welcher Straße sie aufgewachsen sei, wo und wann sie Caleb zum erstenmal getroffen, wie sie Angus kennengelernt habe,

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