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Sein Bruder Kain

Sein Bruder Kain

Titel: Sein Bruder Kain Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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und sie bat sie, alles zu erzählen, was ihr von jener frühen Bekanntschaft in Erinnerung geblieben war.
    »Ich habe Caleb kaum gekannt!« sagte sie verbittert. »Ich schwöre Ihnen, das ist die Wahrheit. Er war ein gewalttätiger Mann, selbst für die Verhältnisse in Limehouse. Er hat mir angst gemacht. Ich glaube, er hat allen Menschen angst gemacht. Er war Angus in Aussehen und Körperbau so ähnlich und seiner Natur nach doch so ganz anders als dieser, daß niemand die beiden hätte verwechseln können. Die Art, wie sie gingen, die Art, wie sie standen, seine Stimme, alles war wild und… ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll.« Sie runzelte die Stirn und kämpfte mit ihren Erinnerungen. »Als sei er immer wütend, als sei er so von Zorn erfüllt, daß seine Beherrschung nur an einem seidenen Faden hing und die leiseste Provokation genügte, um diesem Zorn zum Ausbruch zu verhelfen und zu zerstören, was sich ihm in den Weg stellte.«
    Hester unterbrach sie nicht, sondern nippte nur an ihrem Tee und beobachtete Genevieves Gesicht.
    »Ich nehme an, daß auch er eine liebenswürdigere Seite besessen hatte«, fuhr Genevieve mit leiserer Stimme fort.
    »Dieses arme Geschöpf Selina schien ihn wirklich gern gehabt zu haben.« Sie biß sich auf die Unterlippe. »Ich weißt nicht, warum ich so von ihr spreche. Ich habe am selben Ort begonnen, nur drei Straßen weiter weg. Ich wäre möglicherweise auch jetzt noch dort, wenn ich Angus nicht kennengelernt und er nicht die Geduld aufgebracht hätte und die Liebe, mich all die Dinge zu lehren, die ich brauchte, um Limehouse hinter mir zu lassen, um mich gut genug auszudrücken, um als respektabel, wenn schon nicht als Dame zu gelten.«
    Sie lächelte ein wenig kläglich und trank nun endlich auch von ihrem Tee. »Er hat mir beigebracht, wie ich mich benehmen und kleiden, wie ich mich in Gesellschaft bewegen muß. Ohne seine Hilfe hätte ich es wohl nie geschafft und auch die bessere Gesellschaft nicht in meinem Haus empfangen können, aber im Laufe der Jahre habe ich mehr Selbstvertrauen gewonnen, und ich glaube nicht, daß ich ihn vor seinesgleichen jemals in Verlegenheit gebracht habe. Sehen Sie, er war genau das Gegenteil von Caleb, er hatte endlose Geduld. Ich erinnere mich nicht, daß er jemals die Beherrschung verloren hätte. Es wäre ihm falsch erschienen, so als verrate er sich selbst damit.«
    »Ich wünschte, ich hätte ihn gekannt«, sagte Hester aufrichtig. Er mochte vielleicht ein wenig gönnerhaft gewesen sein, vielleicht fehlte es ihm auch an Humor oder Phantasie, aber er mußte ein Mensch von ungeheurer Freundlichkeit und einer inneren Rechtschaffenheit gewesen sein, wie man sie nur selten fand. »Ich danke Ihnen, daß Sie so offen zu mir waren.« Sie stand auf und verabschiedete sich. »Es tut mir leid, daß ich Sie danach fragen mußte. Es ist sicher sehr schmerzlich für Sie gewesen.«
    »Aber es war mir auch eine Freude«, sagte Genevieve und erhob sich nun ebenfalls. »Ich spreche gern über ihn. Es ist sehr traurig, wenn die Menschen aufhören, von jemandem zu sprechen, wenn er tot ist. Es ist fast so, als wolle man leugnen, daß derjenige je gelebt hat. Ich bin froh, daß Sie mehr über ihn erfahren wollten.«
    Monk wußte bereits von Genevieve, wo Angus aufgewachsen war, und noch bevor Ebenezer Goode sein Haus verlassen hatte, saß Monk in seinem Hansom, der ihn zum Bahnhof brachte, wo er den ersten Zug in das Berkshire-Dorf namens Chilverley nahm. Es war eine ermüdende Reise mit oftmaligem Umsteigen und vielen Verzögerungen und einem ständigen Hin und Her zwischen behaglichen Wartesälen mit prasselndem Feuer und eisigen, zugigen Bahnsteigen. Als er in Chilverley aus dem Zug stieg und in den schneidend kalten Wind trat, war es bereits halb elf.
    »Chilverley Hall?« fragte der Stationsvorsteher zuvorkommend. »Ja, Sir. Ungefähr drei Meilen in nördlicher Richtung. Dort entlang.« Er zeigte auf eine Stelle hinter sich.
    »Sie kennen Colonel Patterson, oder? Sie sehen aus wie jemand vom Militär.«
    Monk war erstaunt. Wäre es nicht seinen eigenen Interessen zuwidergelaufen, hätte er seinem Zorn freien Lauf gelassen.
    »Colonel Patterson?« fragte er grimmig. »Das hier ist Chilverley?«
    »Ja, Sir, Chilverley in Berkshire.« Er sah Monk nervös an.
    »Wen suchen Sie denn hier, Sir?«
    »Ich suche den Familiensitz von Lord Ravensbrook.«
    »Ach herrje. Das Dorf ist zwar tatsächlich der Familiensitz der Ravensbrooks, aber sie leben

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