Sein Bruder Kain
gewesen. Ohne jegliches Auskommen war ihm nichts anderes übriggeblieben, als eine Tätigkeit als privater Ermittler aufzunehmen; außer seinen Fähigkeiten als Detektiv besaß er nichts, das er zu Geld machen konnte. Aber das bedeutete, daß er sich jetzt weder auf die Autorität der Polizei berufen noch die Vorteile ihres weit verzweigten Netzwerks und die Fähigkeiten der Spezialisten nutzen konnte, ein Umstand, auf den der Kutscher ihn so treffend aufmerksam gemacht hatte.
»Tja, was wollen Sie denn von dem armen Schlucker, den ich gefahren hab', hm? Was hat er ausgefressen? Hat die Kasse mitgehen lassen, was?« fragte der Kutscher. »Un' wenn er's getan hat, was geht's dann Sie an?«
»Nein, er hat nichts dergleichen getan«, erklärte Monk ihm wahrheitsgemäß. »Er ist verschwunden. Seine Frau befürchtet, es könne ihm etwas zugestoßen sein.«
»Wahrscheinlich nur mit irgendeinem Flittchen auf und davon gegangen, der dumme Kerl«, sagte der Droschkenkutscher verächtlich. »Dann sind Sie also privat tätig, ja? Und arbeiten für Frauen, denen die Ehemänner durchgebrannt sind, hm?« Er grinste und entblößte dabei eine Reihe von Zahnlücken. »Tief gesunken, was - Inspektor Monk?«
»Immer noch wärmer als Droschken fahren!« fuhr Monk ihn an, bis er sich daran erinnerte, daß er auf die Hilfe des Mannes angewiesen war. Er erstickte fast an dem Versuch, höflich zu bleiben. »Manchmal«, fügte er mit zusammengebissenen Zähnen hinzu.
»Tja, Mr. Monk«, schniefte der Kutscher und wischte sich die Nase an seinem Ärmel ab, bevor er Monk einen boshaften Blick zuwarf. »Wenn Sie mich fragen, ich meine, höflich fragen, könnt' ich Ihnen sagen, wo ich ihn abgesetzt hab'. Aber vergessen Sie nicht, daß ich meinen Tee haben will, mit 'nem Tropfen Brandy drin, wie versprochen. Keinen billigen Gin, nee. Und ich kenne den Unterschied, also versuchen Sie mal ja nicht, mich mit was anderem abzuspeisen.«
»Woher soll ich wissen, ob Sie mir die Wahrheit sagen?« fragte Monk rundheraus.
»Können Sie nicht wissen«, erwiderte der Kutscher mit sichtlicher Zufriedenheit. »Aber ich glaub' nicht, daß Sie sich so sehr verändert haben. Jedenfalls will ich nicht, daß Sie mir ständig auf der Pelle sitzen. Ganz schön unangenehm können Sie werden, wenn mal einer nicht tut, was Sie wollen. Weiß ich, weiß ich! Am besten, ich erzähl' Ihnen 'ne gute Geschichte, und Sie bezahlen mir 'n guten Preis.«
»Geht in Ordnung.« Monk schob eine Hand in seine Rocktasche und holte einen Sixpence heraus. »Fahren Sie mich dahin, wo Sie ihn abgesetzt haben, und ich gebe Ihnen im nächsten Pub einen Tee mit Brandy aus.«
Der Cabby nahm das Sixpencestück als Anzahlung, biß gewohnheitsmäßig darauf, um es auf seine Echtheit zu prüfen, und ließ es dann in die Tasche gleiten.
»Dann mal los!« sagte er vergnügt, ging zu seinem Pferd hinüber und griff nach den Zügeln, bevor er auf den Kutschbock kletterte.
Monk stieg in die Droschke und setzte sich. Das Pferd verfiel in einen schnellen Schritt und begann dann zu traben.
Sie überquerten die Blackfriars Bridge und bewegten sich dann in gleichmäßigem Tempo Richtung Osten durch die Stadt, bevor sie nach Whitechapel kamen und schließlich nach Limehouse. Die Straßen wurden schmaler und schmutziger, die Ziegelsteine dunkler, die Fenster kleiner, und der Gestank von Abfallhaufen und Schweineställen wurde durchdringender. Abwasserkanäle flossen über und liefen in die Gosse, offensichtlich waren schon seit Wochen weder Straßenkehrer noch Mistkarren hier vorbeigekommen. Über die Bridge Road war kurz zuvor eine Viehherde zum Schlachter getrieben worden. Der Geruch weckte deutliche Erinnerungen in Monk, allerdings nur an Gefühle, nicht an Gesichter oder Ereignisse. Er erinnerte sich an ohnmächtigen Zorn, aber nicht an die Gründe dafür. Nur sein pochendes Herz war ihm im Gedächtnis geblieben, und den Geruch hatte er immer noch in der Nase. Es konnte drei Jahre her sein oder zwanzig. Die Vergangenheit hatte keine Bedeutung für ihn, hatte ihm nichts mehr zu sagen.
»So, da wären wir!« sagte der Droschkenkutscher laut, während er sein Pferd zum Stehen brachte und an die Tür klopfte.
Monk konzentrierte sich wieder auf die Gegenwart und stieg aus: Sie befanden sich in einer schmalen, schmutzigen Straße, die parallel zum Fluß verlief und in einem Bezirk namens Limehouse Reach lag. Er kramte in seiner Tasche herum und förderte das Fahrgeld zutage, das er noch dem
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