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Sein Bruder Kain

Sein Bruder Kain

Titel: Sein Bruder Kain Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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bißchen nach Caleb Stone aus. Und den hab' ich bloß ein paarmal gesehen. War aber immer noch ein paarmal zu oft. Ist allerdings kein Gesicht, das man vergessen würde. Nur daß dieser Herr ganz vernünftig aussieht und richtig ordentlich. Kleider wie ein feiner Pinkel, sagen Sie?«
    Monk verspürte eine jähe Erregung, obwohl seine Vernunft ihm etwas anderes sagte.
    »Ja«, erwiderte er schnell. »Das ist nur eine Zeichnung. Vergessen Sie Caleb Stonefield…«
    »Stone«, verbesserte ihn der Flickschuster.
    »Entschuldigung, Stone.« Monk ging nicht weiter darauf ein.
    »Dieser Mann ist mit ihm verwandt, daher wird es also eine gewisse Ähnlichkeit geben. Haben Sie ihn schon einmal gesehen? Vor allem, haben Sie ihn letzten Dienstag gesehen? Er ist wahrscheinlich hier langgekommen.«
    »Angezogen wie 'n feiner Pinkel, mit allem Drum und Dran?«
    »Ja.«
    »Glaub' nicht, daß er einen Hut aufhatte, aber an ihn erinnern tu' ich mich. Jawohl, ich hab' ihn gesehen.«
    Monk seufzte vor Erleichterung. Das durfte er dem Mann jedoch nicht zeigen, sonst würde er sich vielleicht versucht fühlen, die Wahrheit noch ein wenig auszuschmücken.
    »Vielen Dank«, sagte er so nüchtern, wie er konnte, und versuchte das Hochgefühl zu ersticken, das in ihm aufsteigen wollte. »Ich bin Ihnen sehr zu Dank verpflichtet.« Er kramte ein Dreipencestück aus seiner Tasche hervor, der Preis für ein Pint Bier. »Trinken Sie einen auf mich«, meinte er.
    Der Schuster zögerte nur eine Sekunde lang. »Klar, mach' ich, Chef«, versprach er und ließ eine kräftige, mißgestaltete und schwielige Hand hervorschnellen, bevor Monk sich eines anderen besinnen konnte.
    »In welche Richtung ist er gegangen?« Monk stellte die letzte Frage.
    »Nach Westen«, erwiderte der Schuster sofort. »Richtung Süddocks.«
    Monk hatte bereits den Türgriff nach unten gedrückt, um den Laden zu verlassen, als ihm eine andere Frage in den Sinn kam, vielleicht die naheliegendste überhaupt.
    »Wo wohnt Caleb Stone?«
    Der Flickschuster erbleichte unter der dicken Schmutzschicht auf seinem Gesicht.
    »Weiß ich nicht, Mister, und ich bin froh, wenn das so bleibt. Und wenn Sie auch nur einen Funken Verstand haben, wollen Sie's auch nicht wissen. Bei manchen Leuten ist Unwissenheit ein Segen.«
    »Verstehe. Ich danke Ihnen trotzdem.« Monk lachte ihn kurz an, drehte sich dann um und trat hinaus auf die kalte Straße und tauchte hinein in den Gestank der salzigen Flut, der säuerlichen Abwässer und der überquellenden Kanalisation.
    Er versuchte es noch den ganzen Tag über, aber gegen fünf Uhr war es dunkel geworden und bitterkalt dazu, so daß sich auf dem glitschigen Pflaster der Gehwege eine dünne Eisschicht gebildet hatte; er hatte nichts weiter erreicht. Wenn er unbewaffnet hierblieb, würde er sich nur unnötig in Gefahr bringen. Also ging er schnellen Schritts mit gesenktem Kopf und aufgestelltem Kragen zurück zur West India Dock Road, wo Straßenlaternen und ein Hansom auf ihn warteten, der ihn wieder nach Hause brachte. Es war dumm von ihm gewesen, in guter Kleidung hierherzukommen. Den Gestank würde er wohl nie mehr loswerden. Noch eine Lücke in seinem Gedächtnis!
    Daran hätte er denken müssen, bevor er sich auf den Weg machte! Es waren nicht nur die klaffenden Lücken in seinem Leben - seine ganze Kindheit, seine Jugend und die frühen Mannesjahre, die ihm ein Rätsel aufgaben, genauso wie seine Triumphe und Niederlagen, seine Liebesaffären, falls es irgendwelche gegeben hatte, die von Bedeutung waren -, es waren die dummen Kleinigkeiten, das praktische Wissen, das er vergessen hatte, die Fehler, die sich jeden Tag wie Splitter in seine Haut bohrten.
    Der Droschkenkutscher hatte, was das Fieber in Limehouse betraf, mehr oder weniger recht gehabt. Es war allerdings nicht die Art Typhus, die auf die Atemwege schlug, sondern der Darmtyphus, der die Bewohner der Elendsquartiere heimsuchte und von einem überquellenden Abfallhaufen zum nächsten weitergetragen wurde.
    Hester Latterly war zusammen mit Florence Nightingale als Krankenschwester auf der Krim gewesen, im Krankenhaus von Scutari und auf dem Schlachtfeld. Sie war weiß Gott an Krankheiten, Kälte und Schmutz und an den Anblick menschlichen Leidens gewöhnt. Sie konnte die Zahl der Menschen, die sie an Verletzungen oder Fieber hatte sterben sehen, nicht mehr zählen. Aber trotzdem griff ihr das Elend der Armen und Kranken in Limehouse ans Herz, bis ihr nur noch eine einzige Möglichkeit

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