Sein Bruder Kain
in Hals und Schultern verkrampften sich, so daß sich der Stoff ihres blaukarierten Kleides spannte und die dünnen Linien der Nähte sichtbar wurden.
»Ich glaube nicht, daß Angus das gewollt hätte«, sagte sie so leise, daß er sie kaum hören konnte. Sie schien genauso mit sich selbst wie mit ihm zu sprechen. »Auf der anderen Seite«, fuhr sie mit gerunzelter Stirn fort, »hätte er sicher nicht gewünscht, daß wir in Not geraten.« Sie schauderte, als sei es dieser Gedanke und nicht die Kälte des Zimmers, der sie frieren ließ.
»Es ist erst gut eine Woche vergangen, Mrs. Stonefield«, bemerkte er, so freundlich er konnte. »Ich bin sicher, Lord Ravensbrook würde Ihnen ausreichend Mittel für die nötigsten Dinge zur Verfügung stellen, als Darlehen, wenn Sie kein Geschenk von ihm annehmen wollen. Es gibt sicher nicht so viele Dinge, die nicht warten können. Wenn die Stiefel bis jetzt ihren Dienst getan haben…«
Sie fuhr zu ihm herum mit Angst im Blick und mit geballten Fäusten. »Sie begreifen nicht!« Ihre Stimme wurde schrill. Sie war wütend auf ihn, voller Vorwürfe. »Angus wird nicht zurückkommen! Caleb hat ihn am Ende doch getötet, und wir stehen allein und mit leeren Händen da! Heute geht es nur darum, ein wenig Sparsamkeit beim Essen walten zu lassen. Kein Fleisch außer an Sonntagen, sonst einen kleinen Hering oder einen Bückling, Zwiebeln, Hafermehl, manchmal Käse. Apfel, wenn wir Glück haben.« Sie starrte ins Feuer und blickte dann wieder zu ihm auf. »Sparsam sein mit der Kohle. In der Küche sitzen, wo der Herd steht, statt im Wohnzimmer das Feuer im Kamin anzuschüren. Talgkerzen statt Wachs zu benutzen. Die Lichter erst anzuzünden, wenn man absolut nichts mehr sehen kann. Die Kleider zu flicken. Die jüngeren Kinder die Sachen der älteren auftragen zu lassen. Niemals neue zu kaufen.« Ihre Stimme wurde immer rauher, während sich Panik ihrer bemächtigte. »Aber es wird immer schlimmer werden. Ich habe keine Familie, die mir helfen könnte. Es wird so weit gehen, daß wir das Haus verkaufen müssen, solange ich es mir noch leisten kann, um einen fairen Preis zu feilschen. Dann kommt der Umzug in eine einfache Wohnung, zwei Räume, wenn wir Glück haben. Wir werden von Brot und Tee leben und vielleicht, wenn alles gutgeht, einmal im Monat einen Schweinskopf oder einen Schafskopf bekommen oder ein wenig Innereien oder Kutteln. Die Kinder werden nicht mehr die Schule besuchen können - sie müssen jede Arbeit annehmen, die man ihnen gibt, genau wie ich.« Sie schluckte krampfhaft. »Ich kann mir nicht einmal vernünftigerweise die Hoffnung machen, daß sie das Erwachsenenalter erreichen werden. In Armut stirbt man früh. Ein oder zwei werden vielleicht überleben, und das wird ein Segen sein, zumindest für mich, wenn ich sie weiter um mich haben kann. Gott allein weiß, was ihnen bevorsteht!«
Er sah sie voller Erstaunen an. Ihre Phantasievorstellungen hatten sie einem hysterischen Anfall nahegebracht. Er konnte es in ihren Augen und an ihrer Körperhaltung erkennen. Ein Teil von ihm war voller Mitleid für sie. Ihr Kummer war echt, und sie hatte allen Grund, Angst zu haben, aber die Vehemenz, mit der sie sich äußerte, paßte nicht recht zu ihrem Charakter, und er war überrascht, wie sehr diese Szene ihn abstieß.
»Sie greifen zu weit vor, Mrs. Stonefield«, sagte er ohne die Freundlichkeit, die er eigentlich in seine Stimme hatte legen wollen. »Sie…«
»Ich werde das nicht zulassen!« fiel sie ihm leidenschaftlich ins Wort. »Ich werde es nicht zulassen!«
Er sah die Tränen in ihren Augen und begriff plötzlich, wie zerbrechlich sie unter der Maske ihres Mutes doch war. Er war nie für andere Menschen verantwortlich gewesen, für Kinder, die ihm vertrauten und die so verwundbar waren. Das heißt, zumindest soweit er sich erinnern konnte, hatte er nie solche Verantwortung getragen. Nicht einmal der Gedanke daran war ihm in irgendeiner Weise vertraut. Er konnte sich das Ganze nur zum Teil vorstellen, wie ein Fremder, der einen Blick durch ein Fenster warf.
»So weit braucht es doch niemals zu kommen«, sagte er sanft und trat einen Schritt näher an sie heran. »Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, um herauszufinden, was mit Ihrem Mann geschehen ist, und es dann zur Befriedigung der Behörden zu beweisen. Dann wird Ihr Mann entweder zu Ihnen zurückkehren, oder Sie werden das Geschäft erben, das gute Profite abwirft. In diesem Fall können Sie jemanden
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