Sein Bruder Kain
einstellen, der es für Sie leitet, so daß zumindest für Ihr finanzielles Wohlergehen gesorgt sein wird.« Das war eine Übertreibung, aber er verspürte keinerlei Gewissensbisse dabei. »Bis dahin wird Lord Ravensbrook für Sie sorgen, wie er für Angus und Caleb gesorgt hat, als sie in Not waren. Schließlich sind Sie nach seinem eigenen Willen seine Familie. Ihre Kinder sind seine einzigen Enkelkinder. Es ist nur natürlich, daß er den Wunsch verspürt, Ihnen zu helfen.«
Sie gab sich sichtlich Mühe, ihre Fassung zurückzugewinnen, straffte sich und hob das Kinn. Dann holte sie tief Luft und schluckte.
»Natürlich«, sagte sie mit etwas ruhigerer Stimme. »Ich bin sicher, Sie werden alles in Ihrer Macht Stehende tun, Mr. Monk, und ich bete zu Gott, daß das genügen wird. Obwohl Sie Calebs Gerissenheit und Grausamkeit nicht kennen, sonst wären Sie nicht so zuversichtlich. Was Lord Ravensbrook betrifft, muß ich mich wohl darauf gefaßt machen, seine Hilfe anzunehmen.« Sie versuchte zu lächeln, aber es gelang ihr nicht. »Sie müssen mich für sehr undankbar halten, aber ich mag seine Art nicht besonders, und ich werde nicht leichtfertig die Erziehung meiner Kinder in seine Hände legen.« Sie sah ihn mit festem Blick an.
»Wenn man im Haus eines anderen lebt, Mr. Monk, verliert man einen großen Teil der Entscheidungsfreiheit, an die man gewöhnt ist. Es sind hundert Kleinigkeiten, von denen jede einzelne für sich genommen unbedeutend ist, aber zusammen ergeben sie den Verlust der Freiheit, was sehr hart ist.«
Er versuchte es sich vorzustellen, konnte es aber nicht. Er hatte außer in seiner Kindheit nie bei anderen Menschen gelebt, zumindest, soweit er das wußte. Für ihn war ein Heim ein Ort der Ungestörtheit, der Zuflucht, aber auch der Isolation. Der Gedanke, daß mit einem eigenen Zuhause auch Freiheit verbunden war, war ihm bisher nie in den Sinn gekommen.
Sie zuckte leicht die Achseln. »Sie denken sicher, das sei sehr töricht von mir. Ich sehe es in Ihrem Gesicht. Vielleicht haben Sie recht. Aber mir gefällt es nicht, daß andere entscheiden sollen, ob das Fenster geöffnet oder geschlossen wird, um wieviel Uhr ich aufstehe oder mich zurückziehe, zu welcher Stunde ich essen soll. Das ist natürlich absurd, wenn die Alternative darin bestehen könnte, überhaupt nichts zu essen zu haben; das weiß ich. Aber es gibt Dinge, die wirklich zählen - zum Beispiel, wie ich meine Kinder erziehe, was ich ihnen erlaube und was nicht, ob meine Mädchen lernen dürfen, was sie wollen, oder ob sie sich mit Musik und Malerei beschäftigen und nähen lernen müssen. Und vor allem möchte ich für mich selbst entscheiden, was ich lesen will. Das ist mir sehr wichtig. Dieses Haus gehört mir! Hier bin ich meine eigene Herrin.«
Der Zorn flammte erneut in ihrem Gesicht auf, und der Kampfgeist, den er schon bei ihrer ersten Begegnung an ihr bemerkt hatte.
Er lächelte. »Das ist keineswegs absurd, Mrs. Stonefield. Wir wären arme Geschöpfe, wenn uns solche Dinge nicht wichtig erschienen. Vielleicht kann Lord Ravensbrook dazu bewegen werden, Ihnen eine monatliche Unterstützung zukommen zu lassen. Auf diese Weise könnten Sie hier wohnen bleiben, zwar in etwas eingeschränkteren Verhältnissen, aber ohne Ihre Selbständigkeit aufgeben zu müssen.«
Sie lächelte geduldig und ging nicht weiter auf seinen Vorschlag ein, aber ihr Schweigen und die Anspannung in ihrem Gesicht sprachen ihre eigene Sprache.
Monk beschäftigte sich weiter damit, alle anderen Möglichkeiten als eine Gewalttat Calebs auszuschließen. Er machte sich daran, Angus' sämtliche Schritte während der Wochen unmittelbar vor seinem Verschwinden zurückzuverfolgen. Arbuthnot führte ein Geschäftstagebuch, gewährte Monk rückhaltlos Einblick in seine Aufzeichnungen und berichtete ihm alles, woran er sich erinnern konnte. Von Genevieve erfuhr er die notwendigen Einzelheiten über Angus' Kommen und Gehen zu Hause.
Sie hatten einmal mit Freunden zu Abend gegessen und waren zweimal im Theater gewesen. Verschiedentlich war Angus auch allein ausgegangen, um seine Geschäftsverbindungen zu pflegen.
Monk trug all diese Informationen sorgfältig zusammen und stellte fest, daß es ein oder zwei zeitliche Lücken gab, in denen Angus' Verbleib nicht geklärt werden konnte. War Angus tatsächlich zu Caleb gefahren, wie Genevieve glaubte? Oder hatte er doch in irgendeiner Hinsicht ein Doppelleben geführt, von dem sie nichts wußte, hatte er ein
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