Sein Bruder Kain
Laster gehabt, für das er sich so sehr schämte, daß er es aus seinem sonstigen Leben völlig verbannte?
Der naheliegendste Gedanke war natürlich eine andere Frau, obwohl selbst die gründlichste Überprüfung der Rechnungsbücher nicht die leiseste Unstimmigkeit ergab, nicht einen einzigen Farthing, der gefehlt hätte. Was es auch war, in finanzieller Hinsicht hatte es ihn offensichtlich nichts gekostet.
Monks Verwirrung wuchs und mit ihr seine Unzufriedenheit. Bei dem Versuch festzustellen, was Angus Stonefield im vergangenen Monat getan hatte, führte sein Weg ihn schließlich auch in die Geographische Gesellschaft in der Sackville Street. Angeblich hatte Angus dort einer Versammlung beigewohnt, aber es gab keinen Vermerk über seine Anwesenheit. Monk wollte gerade wieder gehen, als er, völlig in Gedanken versunken, mit einer jungen Frau zusammenstieß, die gerade die Treppe heraufkam. Ihre Begleiter waren ihr ein Stück vorausgegangen und bereits im Haus.
Er blickte geistesabwesend auf, um sich zu entschuldigen, aber dann waren alle Gedanken plötzlich wie weggewischt. Sie war klein und von zarter Gestalt, aber in ihrem Gesicht lag ein Liebreiz, der sie von jeder anderen Frau unterschied. Sie sah ihn ebenfalls aufmerksam an, als suche sie etwas in seinen Zügen.
»Es tut mir leid«, sagte er mit einer Ernsthaftigkeit, die ihn überraschte. »Ich habe nicht auf meinen Weg geachtet. Ich bitte um Verzeihung, Ma'am.«
Ihr Lächeln schien ehrlicher Belustigung zu entspringen.
»Sie waren wohl zu sehr mit Ihren eigenen Gedanken beschäftigt, Sir. Ich hoffe, sie waren nicht so finster, wie es den Eindruck machte.« Ihre Stimme klang voll und ein wenig heiser.
»Ich fürchte, das waren sie leider doch.« Warum um alles in der Welt hatte er das gesagt? Er hätte vorsichtig sein müssen, statt sich so offen zu äußern. War es jetzt schon zu spät für einen Rückzug? »Es waren unerfreuliche Dinge, die mich hierhergeführt haben«, fügte er wie zur Erklärung hinzu.
»Das tut mir leid.« Sie sah ihn besorgt an. »Ich hoffe, Sie können die Sache jetzt wenigstens als erledigt betrachten.«
Es war mitten am Nachmittag. Er konnte die Arbeit für diesen Tag noch nicht beenden, obwohl sie ihm immer weniger gefiel. Es gab eindeutig Lücken in Angus Stonefields Leben, gleichgültig, ob er nun so unbescholten war, wie seine Frau es glaubte, oder nicht. Einige dieser Lücken mochten sich durch Besuche bei Caleb erklären lassen, aber galt das für alle?
»Kein Ende in Sicht«, erwiderte er unglücklich. »Lediglich eine weitere Sackgasse.«
Sie machte keine Bewegung und gab ein wunderschönes Bild ab, wie sie da auf der Treppe in der winterlichen Sonne stand. Ihr dichtes, aufgerolltes Haar hatte die Farbe warmen Honigs. Dem Aussehen nach würde es sich gewiß wunderbar weich anfühlen, und er stellte sich vor, daß es einen süßen Duft verströmte, vielleicht ganz schwach nach Blumen oder Moschus. Ihre Augen waren groß und haselnußbraun, ihre Nase war gerade und kräftig genug, um von Charakter zu zeugen, ihr Mund üppig.
Ein korpulenter Herr mit rosigem Gesicht kam die Treppe herunter und zog den Hut vor ihr. Sie erwiderte sein Lächeln und wandte sich dann wieder Monk zu.
»Suchen Sie etwas?« fragte sie mit rascher Auffassungsgabe. Er konnte ihr genausogut die Wahrheit sagen.
»Haben Sie je einen Mann namens Angus Stonefield kennengelernt?«
Ihre geschwungenen Augenbrauen hoben sich. »Hier? Ist er Mitglied?«
Er änderte hastig seine Meinung. »Ja, ich glaube schon.«
»Wie sah er aus?« fragte sie weiter.
»Ungefähr so groß wie ich, dunkles Haar, grüne Augen.« Er wollte gerade hinzufügen, daß er wahrscheinlich gut gekleidet und von ausgeglichenem Wesen war, als ihm einfiel, daß er sich damit möglicherweise einen wesentlichen Zugang zu dem Fall versperrte. Statt weiterer Erklärungen schob er eine Hand in seine Tasche und holte Enid Ravensbrooks Zeichnung hervor.
Die junge Frau nahm sie mit einer schlanken, in einem zarten Handschuh steckenden Hand entgegen und betrachtete sie eingehend.
»Was für ein interessantes Gesicht«, sagte sie schließlich, als sie wieder zu Monk aufschaute. »Warum wollen Sie das wissen? Oder ist das eine taktlose Frage?«
»Er ist seit einiger Zeit nicht mehr zu Hause gewesen, und seine Familie macht sich Sorgen«, sagte er unverbindlich.
»Haben Sie ihn gesehen?« Er mußte sich eingestehen, daß er hoffte, daß sie ihn gesehen hatte, nicht nur wegen seiner
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