Sein Bruder Kain
habe«, sagte sie stockend. »Ich fürchte nicht um mich - ich habe Angst um meine Kinder. Wenn mir etwas zustoßen würde, wäre niemand da, der sich um sie kümmert.«
»Sind Sie Witwe?« fragte Hester sanft. Vielleicht hätte sie an ihrer Stelle dasselbe empfunden. Es war mehr als natürlich, und jede andere Empfindung wäre kaum begreiflich gewesen.
»Ich…« Genevieve holte tief Luft. »Ich weiß es nicht. Es klingt absurd, aber ich weiß es tatsächlich nicht. Mein Mann ist verschwunden…«
»Das tut mir leid.« Sie meinte es ehrlich. »Das muß furchtbar für Sie sein - die Ungewißheit und die Einsamkeit.«
»Ja.« Genevieve amtete noch einmal tief durch und versuchte sich zu fassen. Ganz bedächtig ließ sie dann das saubere Baumwollhemd über Enids Körper gleiten, wobei sie ihr Möglichstes tat, ihr nicht mit ruckartigen, heftigen Bewegungen Schmerzen zubereiten.
»Wie lange?« fragte Hester, als sie das alte Laken abzogen.
»Zwölf Tage«, antwortete Genevieve. »Ich - ich weiß, es hört sich an, als hätte ich alle Hoffnung aufgegeben, aber ich glaube, er ist tot, denn ich weiß, wohin er gegangen ist, und wenn er die Möglichkeit gehabt hätte, wäre er schon längst wieder nach Hause gekommen.«
Hester ging zum Wäscheschrank und holte das saubere Laken. Gemeinsam bezogen sie die Matratze, wobei sie Enid ganz sanft von einer Seite des Bettes zur anderen drehten.
»Wohin ist er gegangen?« fragte Hester.
»Nach Limehouse, um seinen Bruder zu besuchen«, antwortete Genevieve.
»Caleb Stone…«, sagte Hester langsam. »Ich habe von ihm gehört.«
Genevieves Augen weiteten sich. »Dann wissen Sie, daß meine Angst keineswegs eine bloße Torheit ist.«
»Nein«, stimmte Hester ihr aufrichtig zu. »Nach dem wenigen, was ich gehört habe, ist er ein sehr gewalttätiger Mann. Sind Sie sicher, daß Ihr Gatte zu ihm gegangen ist?«
»Ja.« In Genevieves Stimme lag nicht das leiseste Zögern. »Er ist ziemlich oft dort gewesen. Ich weiß, es scheint schwer begreiflich, denn Caleb ist so ein schrecklicher Mensch, daß es wohl nichts gibt, was für ihn gesprochen hätte, aber Sie müssen wissen, die beiden waren Zwillinge. Ihre Eltern starben, als sie noch ganz klein waren, und sie sind gemeinsam aufgewachsen.« Sie glättete das Laken und drückte es mit schnellen, vorsichtigen Bewegungen zwischen Matratze und Bettkante. »Lord Ravensbrook hat sie aufgenommen, aber er ist nur ein entfernter Cousin, und das alles war lange, bevor er Tante Enid heiratete. Sie sind von Dienern großgezogen worden. Sie hatten nur einander, wenn sie Zuneigung brauchten, lachten oder weinten. Wenn sie krank waren oder Angst hatten, war niemand da. Caleb war damals anders als heute. Angus spricht nicht viel darüber, ich glaube, es ist zu schmerzlich für ihn.« Ihr Gesicht verzog sich beim Gedanken an die Qual, die ihr Mann erlitten hatte, und an das Kind, das der Mann, den sie liebte, gewesen war und das sie nicht trösten konnte. Jetzt war sogar der Mann unerreichbar, und ihr blieb nichts anderes übrig, als zu warten.
Hester hätte ihr gern ein wenig Trost oder Hoffnung gespendet, aber es gab keinen Trost und keine Hoffnung, und es wäre grausam gewesen, etwas zu erfinden. Damit würde man sie nur ein zweites Mal durch diese Hölle aus Begreifen, Akzeptieren und Schmerz schicken.
»Sie müssen müde sein«, sagte sie statt dessen. »Lassen Sie Dingle uns etwas zum Frühstück heraufbringen. Dann sollten Sie sich umziehen, auf Ihr Zimmer gehen und schlafen.«
Sie hatten ihre Mahlzeit kaum beendet, als es energisch an der Tür klopfte und diese geöffnet wurde, bevor sie etwas erwidern konnten. Milo Ravensbrook trat ins Zimmer. Er schloß die Tür hinter sich und ging ein paar Meter weit in den Raum hinein. Er hatte nur einen kurzen Blick für Hester und Genevieve und sah dann mit ausdruckslosem Gesicht an ihnen vorbei zu Enid. Nach der Blässe und den roten Rändern unter seinen Augen zu urteilen, hatte er wahrscheinlich den größten Teil der Nacht wach gelegen.
»Wie geht es ihr?« fragte er, ohne eine der beiden anderen Frauen dabei anzusehen.
Genevieve sagte nichts.
»Sie ist sehr krank«, antwortete Hester zurückhaltend. »Aber die Tatsache, daß sie noch lebt, gibt Grund zur Hoffnung.«
Er fuhr zu ihr herum. »Sie nehmen kein Blatt vor den Mund, nicht wahr! Ich hoffe, Sie sind freundlicher zu Ihren Patienten als zu deren Angehörigen!«
Hester hatte zu oft erlebt, daß Furcht in Zorn mündete, um selbst
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