Sein Bruder Kain
Augen lagen so tief in ihren Höhlen, als seien diese zu groß für sie geworden. Aber sie atmete noch, wenn auch kaum sichtbar und vielleicht zu schwach, als daß Ravensbrook sich hätte sicher sein können.
»Es hat sie überhaupt nicht getröstet!« stieß er mit erstickter Stimme hervor. »Es hat sie nur aufgeregt! Sie glaubt, ich sei wütend!« Es war ein Vorwurf, eine Anklage gegen Hester, weil diese sich seiner Meinung nach geirrt hatte.
»Und Sie haben ihr versichert, daß Sie nicht wütend sind. Das muß sie auf jeden Fall getröstet haben«, erwiderte Hester.
Er wandte ungeduldig den Blick ab, und sein Gesicht verdüsterte sich vor Ärger.
»Angus«, sagte Enid plötzlich. »Du mußt ihm verzeihen, Milo, wie schwer es dir auch fallen mag. Er hat sich solche Mühe gegeben, ich schwöre es, er hat sich wirklich Mühe gegeben!«
»Ich weiß, daß er das getan hat!« sagte Ravensbrook schnell und beugte sich über sie; seine eigene Angst vor der Krankheit schien für den Augenblick vergessen zu sein. »Das gehört alles der Vergangenheit an, das verspreche ich dir.«
Enid stieß einen tiefen Seufzer aus, und ein winziges Lächeln spielte um ihren Mund, nur um sogleich wieder zu verschwinden.
»Enid!« rief er aus und griff mit einer heftigen Bewegung nach ihrer Hand.
Hester nahm das feuchte Tuch und tupfte damit Enids Stirn, Wangen, Lippen und Kehle ab.
»Das ist so verdammt nutzlos, Weib!« rief Ravensbrook laut. Dann fuhr er ruckartig herum und erhob sich. »Unterstehen Sie sich, vor meinen Augen mit Ihren verfluchten Ritualen zu beginnen. Können Sie nicht wenigstens den Anstand aufbringen zu warten, bis ich aus dem Zimmer bin? Sie war meine Frau, um Gottes willen!«
Hester legte ihre Hand auf Enids Hals, ganz oben direkt unter dem Kinn, und drückte fest auf die Arterie. Sie spürte, daß die Haut kühler geworden war und der Puls schwach, aber stetig ging.
»Sie schläft«, sagte sie voller Überzeugung.
»Ersparen Sie mir Ihre verdammten Beschönigungen!« Seine Stimme verriet hilflosen Zorn. »Ich lasse mich nicht von einer verfluchten Domestikin wie ein Kind behandeln, noch dazu in meinem eigenen Haus!«
»Sie schläft!« wiederholte Hester fest. »Das Fieber ist zurückgegangen. Wenn sie erwacht, wird sie sich bereits ein wenig besser fühlen, aber es kann eine Weile dauern. Sie war sehr krank, aber mit guter Pflege wird sie wieder vollständig genesen. Das heißt, wenn Sie sie jetzt nicht beunruhigen und mit Ihrer Unbeherrschtheit ihre Ruhe stören.«
»Was?« fragte er, noch immer zornig und verwirrt.
»Möchten Sie, daß ich es wiederhole?« fragte sie.
»Nein! Nein.« Er stand völlig reglos da - nur einen Schritt von der Tür entfernt. »Sind Sie sicher? Wissen Sie, wovon Sie da reden?«
»Ja. Ich habe schon viele Typhuskranke gesehen.«
»Im East End?« sagte er höhnisch. »Dort sterben die Menschen wie die Fliegen!«
»Auf der Krim«, korrigierte sie ihn. »Auch dort sind Hunderte von Menschen gestorben, aber nicht alle.«
»Oh.« Seine Miene entspannte sich ein wenig. »Ja. Die Krim hatte ich vergessen.«
»Das hätten Sie sicher nicht vergessen, wenn Sie dort gewesen wären!« fuhr sie ihn an. Er machte keine weitere Bemerkung, noch dankte er ihr, sondern ging nur aus dem Zimmer und schloß die Tür hinter sich.
Sie läutete nach Dingle, um ihr zu sagen, daß Enid die Krise überstanden habe, und um sie zu bitten, das benutzte Wasser fortzubringen. Außerdem bat sie um eine Tasse Tee. Bis zu diesem Augenblick war ihr nicht klar gewesen, wie unendlich müde sie war.
Dingle brachte ihr Tee, warmen, gebutterten Toast, eine frische, steinerne Flasche mit heißem Wasser und eine Decke, die sie am Küchenfeuer gewärmt hatte.
»Aber Sie bleiben doch noch bei ihr, oder?« fragte sie eindringlich. »Vorsichtshalber?«
»Natürlich werde ich bleiben«, versprach Hester.
Zum erstenmal, seit Hester das Haus betreten hatte, huschte ein Lächeln über Dingles Gesicht.
»Ich danke Ihnen, Miss. Gott segne Sie.«
Monk war jetzt ebenfalls davon überzeugt, daß ihm keine andere Möglichkeit mehr blieb, als nach Caleb Stone zu suchen. Welche Zweifel er auch bezüglich Genevieves hegen mochte, sie rechtfertigten doch keine weiteren Verzögerungen oder irgend etwas Schwerwiegenderes als einen leisen Verdacht, ein Bewußtsein - quälend und schmerzlich - anderer Möglichkeiten. Aber worin diese auch bestehen mochten, sie führten immer wieder zu Caleb. Sobald sie über Angus' Schicksal
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