Sein Bruder Kain
es wie eine Entschuldigung klingen.
»Ich hole ihn sofort.« Dingle war bereits auf dem Weg zur Tür. »Und ich rufe besser auch Miss Genevieve…«
Wenige Minuten später stand Milo Ravensbrook im Raum. Er hatte sich angekleidet, aber sein Haar war ungekämmt und fiel ihm in wirren Locken ins Gesicht, um die die meisten Frauen ihn beneidet hätten. Seine Augen waren eingefallen, und auf seinen schmalen Wangen zeichnete sich der dunkle Schimmer von Bartstoppeln ab. Er sah wütend aus, erschrocken und ungewöhnlich verletzlich. Ohne Hester weiter zu beachten, trat er ans Bett und starrte auf seine Frau hinunter.
Die Uhr auf dem Kaminsims schlug kaum hörbar - es war Viertel nach zwölf.
»Es ist kalt hier drin«, sagte er, ohne sich umzudrehen, und in seiner Stimme schwang ein unverhohlener Vorwurf mit. »Sie haben es kalt werden lassen. Schüren Sie das Feuer.«
Sie machte sich nicht die Mühe, irgendwelche Einwände zu erheben. Es spielte wahrscheinlich im Augenblick keine Rolle, und er war nicht in der Stimmung, ihr zuzuhören. Gehorsam ging sie zum Kohleneimer, griff nach der Zange und legte zwei Stücke Kohlen auf die Glut. Sie entzündeten sich nur langsam.
»Nehmen Sie den Blasebalg!« befahl er.
Sie hatte gelernt, daß die Menschen auf verschiedene Weise auf Kummer reagierten. Manchmal war es die Angst vor der Einsamkeit, die folgen würde, vor den langen Tagen und Jahren ohne einen Menschen, mit dem man seine intimsten Gedanken teilen konnte; Angst vor den Gefühlen, die man nicht erklären konnte, die Überzeugung, daß man von keinem anderen Menschen so geliebt werden könnte wie von dem Verstorbenen, daß nur er die eigenen Fehler verstand und akzeptierte, daß nur er um die eigenen Vorzüge wußte. Bei manchen Menschen waren es Schuldgefühle, weil sie glaubten, irgend etwas ungesagt oder ungetan gelassen zu haben, und nun war es zu spät dafür. Die Zeit rann ihnen durch die Finger, und noch immer wußten sie nichts zu sagen, um all die Fehler und die verpaßten Gelegenheiten wiedergutzumachen. »Ich danke dir« oder »Ich liebe dich« brachten sie nicht über die Lippen; es wäre zu schwierig und auch zu einfach gewesen.
Bei vielen war es auch die Furcht vor dem Tod selbst, das Wissen, daß auch sie ihm eines Tages ins Gesicht sehen mußten, und kein noch so tiefer religiöser Glaube konnte ihnen sagen, was danach kam. Wenn Milo Ravensbrook um sich selbst fürchtete, konnte sie ihm keinen Vorwurf daraus machen.
»Sie können mit ihr sprechen«, sagte sie vom Fußende des Bettes aus zu ihm, der immer noch stocksteif dastand und auf Enid hinabblickte, ohne sie zu berühren. »Selbst wenn sie nicht reagiert, ist es durchaus möglich, daß sie Sie hört.«
Er hob den Kopf, und sein Blick war ungeduldig, beinahe anklagend.
»Es tröstet sie vielleicht«, fügte sie hinzu.
Plötzlich verlor sich alle Wut, die er vorher noch empfunden haben mochte. Er sah Hester mit ruhigem Blick an, weniger ihr Gesicht als ihr graues Kleid und die weiße Schürze, die nicht Dingle gehörten, sondern ihr selbst. Ihr wurde klar, wie selbstverständlich solchermaßen gekleidete Frauen für ihn sein mußten. Wahrscheinlich war sie für ihn nichts anderes als die Ammen oder Kindermädchen, die ihn großgezogen, ihm Geschichten erzählt und ihm zu essen gegeben hatten, die ihm bei den Mahlzeiten Gesellschaft geleistet und dafür gesorgt hatten, daß er aß, was man ihm vorsetzte, die ihn bestraft und gepflegt hatten, wenn er krank war, die ihn bei Spaziergängen im Park oder bei Ausritten in der Kutsche begleitet hatten. Das graue, gestärkte Kleid hatte ihn sein ganzes Leben lang begleitet.
Er wandte sich ab von Hester und setzte sich mit dem Rücken zu ihr auf die Bettkante.
»Enid«, sagte er ein wenig unbeholfen. »Enid?«
Minutenlang bekam er keine Antwort. Er straffte sich und schien sich wieder erheben zu wollen, als sie etwas Unverständliches murmelte.
Er beugte sich vor. »Enid!«
»Milo?« Ihre Stimme war kaum hörbar, nur ein Flüstern, das von einem trockenen, pfeifenden Geräusch begleitet wurde. »Sei nicht so wütend… Du machst mir angst!«
»Ich bin nicht wütend, Enid«, sagte er sanft. »Du träumst! Ich bin überhaupt nicht wütend.«
»Er wollte das nicht…« Sie seufzte und schwieg eine Weile. Ravensbrook drehte sich zu Hester um, seine Augen verlangten eine Antwort.
Hester trat an die andere Seite des Bettes. Enid war sehr bleich, ihre Haut spannte sich über die Wangenknochen, und ihre
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