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Sein Bruder Kain

Sein Bruder Kain

Titel: Sein Bruder Kain Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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stöhnte leise und versuchte dann zu lächeln. »Du weißt, Mama mag Alexander sowieso lieber.«
    Hester tauchte das Tuch noch einmal in kaltes Wasser und legte es Enid auf die Stirn, zog dann die Decke ein wenig zurück und tupfte ihr sanft Kehle und Brust ab. Sie hatte versucht, sie zum Trinken zu bewegen, war aber gescheitert. Daher mußte sie wenigstens nach Kräften versuchen, ihre Temperatur zu senken. Sie schien jetzt endgültig in Fieberphantasien versunken zu sein.
    »Na gut«, sagte Enid plötzlich. »Erzähl es nicht Papa… Er ist so ein…« Sie warf sich herum und zuckte zurück, schien dann plötzlich von Traurigkeit überwältigt zu werden. »Der arme George. Aber ich konnte es einfach nicht tun! So furchtbar langweilig! Das verstehst du nicht, oder?« Sie schwieg einige Augenblicke, versuchte dann, sich aufzusetzen, und sah Hester fragend an. »Milo? Sei nicht so böse mit ihm. Er wollte doch nicht…«
    »Pst.« Hester legte ihre Arme um sie. »Er ist nicht böse, ich verspreche es Ihnen. Legen Sie sich wieder hin. Ruhen Sie sich aus.«
    Aber Enids Körper war steif wie ein Brett, und sie atmete schwer, keuchte schließlich vor Schmerzen.
    »Milo! Es tut mir so leid, mein Lieber! Ich weiß, daß es dir weh tut… Aber du solltest wirklich nicht…«
    »Keine Angst«, wiederholte Hester. »Er ist nicht ärgerlich. Er möchte nur, daß Sie ausruhen und wieder gesund werden.« Sie drückte Enid fester an sich. Ihr Körper brannte vor Hitze, und gleichzeitig hatte sie Schüttelfrost; ihr Nachtkleid war von Schweiß durchnäßt. Durch den dünnen Baumwollstoff fühlte sie sich zerbrechlich an. Noch vor wenigen Tagen war sie eine so starke Frau gewesen.
    »So böse!« rief Enid, und ihre Stimme war rauh vor Kummer.
    »Warum? Warum, Milo?«
    Hester drückte sie sanft an sich. »Er ist nicht böse, meine liebe Freundin. Ganz bestimmt nicht. Wenn er böse war, dann ist das schon lange her. Jetzt ist alles wieder gut. Versuchen Sie still zu liegen und ein wenig Ruhe zu finden.«
    Einige Minuten lang herrschte dann tatsächlich Ruhe. Enid schien sich ein wenig besser zu fühlen.
    Hester hatte schon viele Menschen im Fieberwahn erlebt, und sie wußte, daß Vergangenheit und Gegenwart häufig eins wurden. Manchmal schienen die Menschen bis in ihre Kindheit zurückzukehren. Die Fieberphantasien waren erschreckend: Riesige Gesichter blähten sich vor ihnen auf und verschwanden wieder; die Züge der Menschen, die sie pflegten, verzerrten sich, wurden zu Schreckbildern, bedrohlich und entstellt.
    Sie wünschte sich sehnlichst, helfen zu können, die Qualen ein wenig zu lindern, ja sogar die Krise abwenden zu können, aber im Augenblick gab es nichts für sie zu tun. Es gab keine Medikamente, keine Behandlung für diese Krankheit. Das einzige, was man tun konnte, war abwarten und hoffen.
    Das Gas zischte leise in der einzigen Lampe, die noch brannte. Die Uhr auf dem Kaminsims tickte. Das Feuer war im Kamin so weit heruntergebrannt, daß die Kohlen nur noch rotglühende Würfel waren und keine Flamme zuckte und kein Laut aus der zusammengefallenen Glut aufstieg.
    Enid bewegte sich wieder.
    »Milo?« wisperte sie.
    »Soll ich ihn holen lassen?« fragte Hester. »Er ist im Haus, ganz in der Nähe. Er wird sofort kommen.«
    »Ich weiß, es bekümmert dich, mein Lieber«, fuhr Enid fort, als hätte sie Hesters Frage nicht gehört. »Aber du darfst nicht länger daran denken. Es war doch nur ein Brief. Er hätte nicht schreiben sollen…« In ihrer Stimme schwang tiefe Sorge mit und etwas, das Mitleid hätte sein können. »Ich hätte nicht lachen dürfen…« Sie brach ab, und ihre Worte gingen in einem unverständlichen Murmeln unter. Dann stieß sie plötzlich ein Kichern aus, das von reinster Freude erfüllt war, bevor sie abermals in Schweigen verfiel.
    Hester wrang noch einmal das Tuch aus. Es war Zeit, an der Klingelschnur zu ziehen und sich neues Wasser bringen zu lassen, das sauber und kühl war. Aber um zur Klingel zu kommen, würde sie Enid loslassen müssen.
    Ganz vorsichtig versuchte sie sich aus Enids Armen zu lösen, aber diese klammerte sich plötzlich mit schwachem, aber verzweifeltem Griff an sie.
    »Milo! Geh nicht weg!… Natürlich tut so etwas weh. Es war schändlich von ihm. Ich verstehe, mein Lieber… aber…« Wieder gerieten ihre Worte durcheinander und ergaben keinen Sinn mehr. Ihr Geist irrte umher. Sie schien wieder eine junge Frau zu sein und sprach von Tanzabenden und Festen. Meist waren

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