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Sein Bruder Kain

Sein Bruder Kain

Titel: Sein Bruder Kain Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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im Bilde waren, und sei es auch nur so weit, daß die Behörden sich endlich veranlaßt fühlten einzugreifen, blieb immer noch Zeit, sich der Schuldfrage zuzuwenden. Er zog sich alte Kleidungsstücke an, die er früher einmal für einen ähnlichen Zweck erworben haben mußte. Seine eigene Garderobe war stets tadellos. Seine Schneiderrechnungen aus vergangenen Jahren legten ein stummes Zeugnis dafür ab und verrieten ein hohes Maß an Eitelkeit. Die Qualität und der Schnitt seiner Kleidung, der perfekte Sitz an den Schultern, die weichen, glatten Aufschläge brachten ihm schmerzlich zu Bewußtsein, wieviel Geld das alles gekostet haben mußte, gaben ihm aber gleichzeitig ein Gefühl tiefer Befriedigung. Jedesmal, wenn er sich ankleidete, freute er sich über die feinen Stoffe und sein elegantes Spiegelbild. Aber heute war sein Ziel Limehouse und vielleicht die Isle of Dogs, denn er wollte Caleb Stone suchen und sich nicht allzu deutlich als Fremder zu erkennen geben. Als solchen hätte man ihn ebenso verabscheut wie verachtet, und ganz gewiß hätte er nur Lügen zu hören bekommen. Deshalb streifte er sich ein zerrissenes, gestreiftes Hemd ohne Kragen über den Kopf und zog sich dann eine ausgebeulte, schlechtsitzende, bräunlichschwarze Hose an. Sein Spiegelbild entlockte ihm eine Grimasse; dann fügte er, hauptsächlich, um sich warm zu halten, eine fleckige Weste hinzu sowie eine dicke Jacke aus brauner Wolle mit mehreren Löchern darin. Schließlich krönte er das Ganze mit einem Hut und - wobei er es wohlweislich vermied, noch einmal einen Blick in den Spiegel zu werfen - trat hinaus in den leichten, frühmorgendlichen Nieselregen.
    Mit einer Droschke fuhr er dann bis ans Ende der Commercial Road East im Herzen von Limehouse, von wo aus er zu Fuß weiterging. Er wußte bereits, daß es schwierig sein würde, Caleb zu finden. Schließlich hatte er schon vorher einige halbherzige Versuche in diese Richtung unternommen. Niemand schien besonders begierig darauf zu sein, mit ihm zu reden.
    Er stellte seinen Kragen auf und überquerte die Britannia Bridge, die sich über das dunkle Wasser des Limehouse Cut spannte; dann führte ihn sein Weg vorbei am Rathaus und schließlich auf die West India Dock Road, von der er scharf nach rechts auf die Three Colt Street Richtung Fluß und Gun Lane abbog. Er hatte mehrere Lokale im Sinn, in denen er seine Nachforschungen anstellen wollte. Nach dem, was er bereits von ihm wußte, hielt sich sein Leben in einem instabilen Gleichgewicht, immer am Rande des Überlebens. Er war verschiedentlich in Gewalttätigkeiten und Betrügereien verwickelt gewesen. Er war jähzornig, und die Leute sprachen nur mit ängstlicher und gedämpfter Stimme von ihm. Aber bisher hatte Monk noch nicht herausfinden können, womit er eigentlich sein Geld verdiente oder wo er lebte, abgesehen von der Tatsache, daß sein Wohnort sich weiter östlich befinden mußte, vom West India Dock aus ein Stück flußabwärts.
    Er fing beim Pfandleiher in der Gun Lane an. Dort war er schon einmal gewesen. Er konnte sich, was den Mann selbst betraf, an nichts Konkretes erinnern, genausowenig wie an den kleinen, mit privaten Gegenständen jeder Art überfüllten Raum; alles, was er dort sah, deutete auf das Ausmaß der Armut in diesem Viertel hin. Aber der erschrockene Gesichtsausdruck des Mannes, der da auf der anderen Seite der Theke im Licht der Öllampen stand, bewies, daß sie sich in der Vergangenheit irgendwann einmal begegnet sein mußten, und Monk war entschlossen, das Beste daraus zu machen.
    Natürlich konnte er sich nicht länger auf die Machtbefugnisse der Polizei berufen, und Wiggins, der Eigentümer, war ein harter Mann. Er hätte seinem Gewerbe unmöglich so lange nachgehen können, wenn er leicht zu übervorteilen gewesen wäre.
    »Ja?« sagte er vorsichtig, als Monk sich ihm näherte. »Ich weiß von nichts, von rein gar nichts«, sagte er abwehrend. »Ich hab' keine heißen Waren da, und ich mach' keine Geschäfte mit Dieben.« Sein dickes Kinn versteifte sich. Es war eine Lüge, und sie beide wußten es. Es ging nur darum, es zu beweisen.
    Monk hatte bereits beschlossen, wie er vorgehen würde.
    »Ich glaube Ihnen nicht, aber was soll's? Es interessiert mich auch nicht.«
    »Ach? Seit wann denn das?« Wiggins' Gesicht spiegelte tiefste Ungläubigkeit wider.
    »Seit Sie mir hier in Ihrem Laden mehr nützen als im Gefängnis«, erwiderte Monk.
    »Ach ja?« Er beugte sich über die Theke, dort, wo

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