Sein Bruder Kain
ihre Worte nicht zu verstehen, aber gelegentlich kamen ihr ein oder zwei ganz klar über die Lippen - der Name eines Mannes, ein Kosewort, ein Tadel oder ein Lebewohl. Es schien, als ob Enid entweder in ihrer Phantasie oder im tatsächlichen Leben viele Bewunderer gehabt hätte, und aus der Vertrautheit, mit der sie sprach, und aus vereinzelten Bemerkungen hier und dort schloß Hester, daß einige der Männer sie sehr geliebt haben mußten. Milos Name kam ihr einmal mit einem Aufschrei der Hoffnungslosigkeit, ja beinahe der Verzweiflung über die Lippen, und dann sprach sie ihn zwei oder dreimal hintereinander so aus, als fasziniere er sie, und dann lag sowohl Zärtlichkeit als auch Ärger in ihrer Stimme.
Gegen Mitternacht wurde sie ruhiger, und Hester befürchtete, daß sie ihr langsam entglitt. Sie war sehr schwach, und das Fieber schien sich noch zu verstärken. Schließlich ließ Hester sie einen Augenblick lang allein, um an der Klingelschnur zu ziehen. Dingle erschien beinahe sofort, noch immer voll bekleidet, das Gesicht bleich vor Kummer, die Augen weit aufgerissen. Hester bat sie, Lord Ravensbrook zu holen, das schmutzige Wasser mitzunehmen und ihr frisches zu bringen, dazu auch noch einige saubere Handtücher.
»Ist es…«, begann Dingle, bevor sie ihre Meinung änderte.
»Glauben Sie, daß wir noch Zeit haben, die Bettwäsche zu wechseln, bevor Seine Lordschaft kommt?«
»Nein, vielen Dank«, lehnte Hester ihr Angebot ab. »Ich möchte ihr nicht zusätzliche Unannehmlichkeiten bereiten.«
»Ich helfe Ihnen, Miss.«
»Das ist jetzt nicht wichtig.«
»Ist es… das Ende?« Dingle zwang die Worte zwischen aufeinandergepreßten Lippen hervor. Sie schien vor einem Tränenausbruch zu stehen. Hester fragte sich, wie lange sie wohl bei Enid gewesen sein mochte… Wahrscheinlich ihr ganzes Leben, seit sie erwachsen war, vielleicht dreißig Jahre oder länger. Mit ein wenig Glück hatte Lord Ravensbrook Enid gestattet, Vorsorge für sie zu treffen, oder er würde es selbst tun. Ansonsten stand sie möglicherweise schon bald ohne Stellung da - obwohl Dingles bleiches Gesicht und ihre verweinten Augen bewiesen, daß dieser Gedanke ihr im Augenblick unendlich fernlag.
»Ich glaube, es ist die Krise«, antwortete Hester. »Aber sie ist eine starke Frau, und sie hat Mut. Vielleicht bedeutet es noch nicht das Ende.«
»Natürlich hat sie Mut«, sagte Dingle leidenschaftlich. »Ich habe nie jemanden kennengelernt, der ihren Kampfgeist besessen hätte. Aber der Typhus ist eine schreckliche Krankheit. Er hat schon so viele dahingerafft.«
Vom Bett aus hörten sie ein leises Stöhnen, dann lag Enid wieder völlig reglos da.
Dingle keuchte.
»Es ist schon gut«, sagte Hester schnell, denn sie sah, daß Enids Brust sich ganz leicht hob und senkte. »Aber Sie sollten besser ohne weiteren Verzug Seine Lordschaft holen. Und vergessen Sie das Wasser nicht; es soll kühl sein, nicht heiß. Sorgen Sie nur dafür, daß es nicht mehr ganz kalt ist, das ist alles.«
Dingle zögerte. »Ich weiß, Sie haben die ganze Pflege übernommen, aber ich möchte sie gern aufbahren, wenn Sie nichts dagegen haben.«
»Natürlich«, stimmte Hester sofort zu. »Falls das notwendig werden sollte. Aber noch ist die Schlacht nicht verloren. Und jetzt lassen Sie bitte das Wasser holen. Es könnte von entscheidender Wichtigkeit sein.«
Dingle fuhr herum und rannte beinahe zur Tür. Vielleicht hatte sie geglaubt, das Wasser sei lediglich für kosmetische Zwecke gedacht. Jetzt hastete sie über den Flur und kehrte schon nach weniger als fünf Minuten mit einem großen Eimer voll kaltem Wasser und einem sauberen Handtuch über dem Arm zurück.
»Vielen Dank.« Hester nahm beides mit dem Anflug eines Lächelns entgegen und tauchte das Tuch sofort ins Wasser. Dann legte sie es, noch naß, auf Enids Stirn und Kehle, bevor sie ihre Hände und Unterarme abtupfte.
»Helfen Sie mir, sie ein wenig aufzusetzen«, bat sie. »Dann kann ich ihr das Tuch ein oder zwei Sekunden lang in den Nacken legen.«
Dingle gehorchte augenblicklich.
»Lord Ravensbrook braucht aber lange«, murmelte Hester, während sie Enid wieder in ihre Kissen betteten. »Hat er sehr tief geschlafen?«
»Oh!« Dingle starrte sie entsetzt an. »Ich hab' ihn vergessen! Ach herrje - ich gehe sofort und hole ihn!« Sie bat Hester nicht, über ihre Pflichtvergessenheit zu schweigen, aber in ihren Augen stand ein stummes Flehen.
»Das Wasser war wichtiger«, sagte Hester und ließ
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