Sein eigen Fleisch und Blut: Thriller (German Edition)
Stirn. »Na, dann sorgen Sie lieber für ausreichend Schlaf. Und nehmen Sie sich gelegentlich die Zeit, etwas zu essen.«
Sie versuchte, unbeschwert zu wirken. »In unserer Wache? Da kann ich gleich um eine Lebensmittelvergiftung bitten.«
O’Hare hingegen klang ernst. »Jeder von uns geht anders mit seiner Trauer um. Sich in die Arbeit zu stürzen ist löblich, aber nicht immer das Klügste. Ich möchte nicht irgendwann bei Ihnen eine Obduktion machen müssen.« Er blickte sie an und bemerkte den trotzigen Zug um ihren Mund. »Ich habe Sie länger nicht gesehen; da dachte ich schon, Sie hätten sich einige Zeit freigenommen.«
»Ja, ich hänge wirklich gern im Leichenschauhaus herum, wenn mir langweilig ist. Todlangweilig …«
O’Hare zog wenig amüsiert eine Augenbraue hoch. »Essen Sie wenigstens anständig?«
»Mir geht es gut«, beharrte sie. Wenn sich jemand so freundlich um sie bemühte, fühlte sie sich verwundbar. »Ich esse später etwas. Mein Magen ist noch ein bisschen empfindlich.« Sie suchte nach einem Paar Latexhandschuhen.
»Nur intelligente Menschen leiden unter Migräne«, erklärte der Pathologe. »Wie ich leider selbst immer wieder am eigenen Leib erfahren muss.«
Mulholland hustete und zeigte auf die verkohlte Leiche. »Ist er das?«
John Campbell – beziehungsweise das, was von ihm übrig war – lag auf dem Sektionstisch unter einer blauen Plastikfolie. O’Hare zog die Abdeckung zurück und enthüllte einen Toten, dessen nacktes Fleisch erst schwarz und schließlich grau geworden war. Die verbrannte Haut auf dem Unterarm war aufgeplatzt, die Ränder hatten sich geöffnet wie Lippen, die Zähne entblößten, nur sah man statt eines Gebisses verkohlte Knochen. Auf einem Wagen aus rostfreiem Stahl neben dem Sektionstisch lagen die verbrannten Überreste einer Hose, eines Ledergürtels mit noch funktionstüchtiger Schnalle und ein winziges, angesengtes Stück einer dunkelblauen Strickjacke, aus dem noch ein paar Fasern Fair-Isle-Wolle ragten wie halbrohe Vermicelli. In einer Nierenschale befanden sich außer zwei grünen Plastikpinzetten fünf Metallknöpfe, die sogar glänzten. Jemand hatte sich die Mühe gemacht, sie mit der Vorderseite nach oben hinzulegen, sodass nun die kleinen aufsteigenden Löwen vom schottischen Wappen in einer Reihe standen.
Costello holte den sechsten, der in einer sterilen Tüte steckte, aus ihrer Tasche und legte ihn neben die anderen. »Wie Sie Andersons Bericht entnehmen können, hat er einen dieser Knöpfe vom Tatort mitgenommen. Und ich bringe ihn jetzt zurück, okay?« Sie zögerte kurz und schob den Knopf dann so zurecht, dass er in dem Tütchen genauso lag wie die übrigen.
»Wurde zur Kenntnis genommen«, sagte O’Hare förmlich. »Wie ich höre, ist ein zweites Kind verschwunden.«
»Irgendeine Säuferin hat ihren Sohn auf dem Spielplatz verloren, aber wir wissen nicht, ob die Sache in Zusammenhang mit der anderen steht.« Mulholland war ungeduldig und nicht aufgelegt zu schwatzen.
»Na, dies hier sollte eigentlich ein unkomplizierter Unfalltod sein, dann können Sie ja bei dem anderen Fall weitermachen.«
O’Hare rief seine Kollegin, Dr. Cathie, die sofort antwortete: »Bin in einer Minute da.«
»Haben Sie schon die Todesursache festgestellt?«, fragte Mulholland, während er den Bericht überflog, und er klang ein wenig wie ein Vorgesetzter, der eigentlich etwas Besseres zu tun hat. »Ich meine, abgesehen davon, dass er geröstet wurde. Wir brauchen …«
»Ich weiß, was Sie brauchen, DC Mulholland«, sagte O’Hare frostig. »Und ich bin zwar wirklich gut, aber trotzdem ist es üblich, eine Leiche zuerst zu öffnen und sie sich genau anzuschauen. Dabei bekommt man in der Regel eine bessere Vorstellung davon, was geschehen sein könnte.« Er gab sich keine Mühe, seinen Sarkasmus zu verhehlen.
»Er hatte ein arthritisches Knie und häufig Bauchweh.«
»Tatsächlich? Die Tochter ist übrigens in die Notaufnahme im Western eingeliefert worden, wussten Sie das? Sie ist heute Morgen zusammengebrochen, und Karen, die Tochter, hat sie in der Küche auf dem Boden gefunden. Quinn konnte keinen Papierkram über Ihren Besuch bei ihr finden, DS Costello.«
»Wann ist das denn passiert?«, fragte Costello. »Und warum? Gestern fehlte ihr noch nichts.«
»Ich glaube, sie wurde heute Morgen gegen neun eingeliefert. Trotzdem haben die bislang keine Ahnung, worin das Problem besteht.«
»Scheiße«, sagte Costello und fügte hinzu:
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