Sein eigen Fleisch und Blut: Thriller (German Edition)
Lynne eintrat, sondern begutachtete ein Bild nach dem anderen, und jedes wurde mit einem feinen Blatt Seidenpapier abgedeckt. Die meisten Bilder landeten auf dem linken Stapel, einige auch auf dem rechten. Im Zimmer herrschte stickige Hitze. Lynne schnalzte missbilligend ein paar Mal mit der Zunge, ging zum Fenster und legte eine Hand auf den Heizkörper. Er lief auf Hochtouren.
»Mach das Fenster nicht auf, sonst fliegt mir der ganze Kram durcheinander.«
»Wir brauchen frische Luft«, sagte Lynne und bemerkte, dass ihre Schwester eine andere Hose trug. Demnach hatte sie sich allein umgezogen.
»Was machst du denn?«, fragte Lynne leise.
»Ich schaue mir ein paar von meinen alten Sachen an. Vielleicht kann ich damit mein Image ein bisschen aufpolieren. Ich möchte nicht den Rest meines Lebens wegen einer verfluchten Mücke berühmt sein. Entschuldigung, Squidgy.«
Squidgy hockte auf dem Tisch und beachtete sie nicht.
»Warum? Du kannst deine Termine jetzt schon kaum einhalten; wie soll es werden, wenn du dir noch mehr Arbeit aufhalst? Du hast Verpflichtungen, Eve. Du darfst andere Leute nicht ständig vor den Kopf stoßen.« Sie hörte die Panik in ihrer Stimme.
»Diese Dinge überlasse ich den Besserwissern dieser Welt. So wie dir. Mir stellen sich größere Aufgaben.«
Lynne antwortete nicht; sie sah an ihrer Schwester vorbei hinaus in den Garten, in ihren Garten. Zwischen den kahlen Bäumen war das Gras mit sanftem Weiß überzogen. Ihr Vogelhäuschen sah schmutzig und verlassen aus. Sie erinnerte sich: Das hatte sie in der Woche gekauft, in der Eve an der Kunsthochschule angefangen hatte. Das war auch die Woche gewesen, in der Eve die Männer entdeckte. Während der nächsten Jahre hatte sie keine Nacht mehr im Haus der Familie verbracht, bis sie nach dem Unfall und einem langen Krankenhausaufenthalt im Rollstuhl hereingeschoben wurde; seitdem war sie so gut wie nicht mehr ausgegangen. Und in den Jahren, in denen Eve fort gewesen war, hatte Lynne die Mutter gepflegt, die unter unvorstellbaren Schmerzen litt. Im Garten hatte sie Zuflucht und Ruhe gefunden vor dem ewigen, alles durchdringenden Geruch von Desinfektionsmittel, vor den Schuldeneintreibern, die nach Eve suchten, und überhaupt vor der ganzen Welt. Viele Stunden hatte sie dort draußen verbracht, hatte mitten im Winter – sie liebte die Kälte – in ihrem großen Mantel auf den Stufen gesessen und an ihrem Earl Grey genippt. Wann hatte sie damit aufgehört? Als ihre Mutter gestorben war? Als Eve wieder eingezogen war? Oder als sie herausfand, dass ihre Mutter das Haus Eve hinterlassen hatte? Schaudernd dachte sie an den Schock, den dieser Verrat ausgelöst hatte, diese Enteignung. Nein, nein, ein zweites Mal würde ihr das nicht passieren.
Lynne nahm den Probedruck eines Single-Covers, das Eve vor Jahren für Rogan O’Neill entworfen hatte. Für Sammler von Rogan O’Neill musste es inzwischen ein Vermögen wert sein. Es handelte sich um eine feine Tuschzeichnung von Rogan, der an einem Baum lehnte, lange schwarze Kleidung trug und eine nachdenkliche Haltung eingenommen hatte. Die Allee führte in den Hintergrund, und an jedem Baum lehnte ein Rogan, doch je weiter hinten, desto stärker verlor er seine Gestalt und verwandelt sich langsam in Noten, die sich dann um den letzten Baum rankten. Die Zeichnung war wunderbar ausgeführt.
So talentiert, ihre Schwester, und so unzufrieden.
Sie , Lynne, war diejenige, die das Recht gehabt hätte, unzufrieden zu sein, dachte sie; um die Mutter zu pflegen, hatte sie ihre angefangene Ausbildung aufgegeben, ohne je die Chance zu bekommen, sie wieder aufzunehmen. Immer hatte sich alles nur um Eve und ihre Begabung gedreht, nie um Lynne und ihre schier endlose Geduld und Opferbereitschaft. Immer nur Eve, Eve, Eve. Lynne biss sich auf die Lippe und unterdrückte das Gefühl von Angst, das ihren Bauch aufwühlte. Ihr Leben hastete eine schmale Landstraße ins Nirgendwo entlang. Und sie hatte keine Ahnung, wie sie abbiegen könnte.
Lynne fiel auf, dass ihr Schachbrett verändert worden war; die Dame war auf den Boden gefallen und lag dort würdelos mit dem Gesicht nach unten. Das Schachbrett hatte ihrer Mutter gehört und deren Mutter davor, es war aus reinem Elfenbein, das mit dem Alter den Glanz verloren hatte. Lynne setzte sich auf einen Esszimmerstuhl und versuchte, die Dame zu erreichen, gelangte aber nicht dran. Sogar nachdem sie den Stuhl bis zum Sideboard gezogen hatte, gelang es ihr nicht. Sie
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