Sein letzter Fall - Fallet G
nur weniger Tage, dass er den Fall G. detailliert schilderte – zuerst Ulrike, dann Bausen und jetzt Beate Moerk –, und langsam hatte er das Gefühl, als würden die Geschehnisse in jeder neuen Situation, in der er gezwungen war, alles zu berichten, immer weiter wegrücken
Vielleicht war das gar nicht so merkwürdig. Denn schließlich war es ja Jaan G. Hennan, an dem sein geplantes Memoirenbuch letztendlich gescheitert war, also lag vermutlich auch so etwas Verborgenes, Eingekapseltes in dieser alten Geschichte – abgesehen von allem anderen traumatischen Gerümpel. Etwas, das sich gegen alle Formen der Beschreibung und der Relativierung wehrte. Oder zumindest seine eigenen zögerlichen Versuche torpedierte.
Vielleicht eine Art Therapie, die mich eines Tages heilen wird?, dachte er überrascht. Die es zumindest versucht. Aber verdammter Scheiß, warum kann ich nicht den ganzen Dreck amputieren und damit ein für alle Mal loswerden?
Beate Moerk schien an allen Einzelheiten aufrichtig interessiert zu sein. Sie fragte und wollte alles wissen. Machte sich Notizen und bat ihn um genauere Erklärungen – so dass die ganze Prozedur drei Tassen Kaffee, ebenso viele Kopenhagener und fast eine Stunde dauerte.
Was den Einsatz der Kaalbringer Polizei betraf, ging es dagegen bedeutend schneller.
Allein schon deshalb, weil es nicht besonders viele Aufgaben gab, die in dieser Hinsicht zu verteilen waren.
Außer der einen: zu versuchen, Verlangen zu finden.
Oder zumindest etwas zu finden, was einen Hinweis darauf gab, dass er in der Stadt gewesen war. Vor ungefähr drei Wochen. Am fünfzehnten April und um dieses Datum herum.
Beate Moerk versprach, sich sofort um diese Nachforschungen zu kümmern, und wenn man Glück hatte, dann würde man alle Hotels und Pensionen in ein paar Stunden überprüft haben, und ganz gleich, wie das Ergebnis ausfallen würde, so beschlossen die beiden, dass sie irgendwann im Laufe des Abends bei Bausen von sich hören lassen würden.
Was Jaan G. Hennan betraf, so konnte man natürlich nicht viel mehr tun, als eine ähnliche – aber möglichst etwas diskretere – Fahndung nach ihm zu starten. Und wenn er sich tatsächlich in Kaalbringen befand und wenn er tatsächlich unter seinem richtigen Namen auftrat, dann dürfte es nicht besonders schwer sein, ihn auch zu finden. Wenn er es aber – aus irgendeinem Grund – vorzog, sich einer anderen Identität zu bedienen, ja, dann sähe die Sache natürlich ganz anders aus.
Dass G. – wo immer er sich auch befinden mochte – ein freier Mann war mit den gleichen Menschenrechten wie jeder andere, das war natürlich auch ein Faktum, auf das Rücksicht genommen werden musste.
Van Veeteren erklärte, dass er irgendwann am Sonntagabend die Rückfahrt nach Maardam antreten wollte – vorausgesetzt, dass nichts wirklich Aufsehen Erregendes bis dahin eintreten würde –, und fragte, ob es möglich war, Inspektorin Moerk zu einem späten Mittagessen oder einem frühen Abendessen einzuladen, bevor er Kaalbringen wieder ver-ließ.
Eventuell in Gesellschaft von Bausen. Vielleicht am kommenden Tag?
Ihm schien, als zögere sie eine Sekunde, bevor sie im Prinzip zusagte.
Sie musste das nur zuerst mit ihrem Mann besprechen.
Das war natürlich nicht mehr als recht und billig. Sie versprach, ihm einen endgültigen Bescheid zu geben, wenn sie am Abend anriefe.
Er hatte bis zu dem verabredeten Treffen mit Bausen noch eine gute Stunde totzuschlagen, also machte er einen Spaziergang zum Hafen und Jachtgelände hinunter. Er überquerte den Fischmarkt, erinnerte sich an die örtlichen Namen, sobald die jeweiligen Punkte auftauchten: die Doomsgasse, die Esplanade, See Wharf – das Hotel, in dem er gut einen Monat lang gewohnt hatte –, die Hoistraat und Minders Steg.
Es war schon merkwürdig, hier wieder herumzuschlendern. Der Axtmörderfall lag jetzt fast ein Jahrzehnt zurück, aber der Abstand schrumpfte schnell – wie es immer der Fall ist, wenn durch einen erneuten Besuch die Erinnerung plötzlich wieder neue Nahrung erhält. Die Boote, die da im Jachthafen vor sich hin dümpelten, hätten haargenau die gleichen sein können wie beim letzten Mal; die Eisbude und die Mädchen, die davor herumstanden, auch, und als er den vielbenutzten Fuß- und Fahrradweg durch den Stadtwald einschlug, ging er davon aus, dass er ohne Probleme den Platz wiederfinden würde, an dem eines der Opfer damals der scharf geschliffenen Klinge des Mörders zum Opfer gefallen
Weitere Kostenlose Bücher