Sein letzter Fall - Fallet G
keiner Weise missbrauchen werden.«
Verdammt, wovor hat sie denn so große Angst?, überlegte er.
»Ich verkehre nicht mit ihm, und ich weiß nichts über sein Leben.«
Rooth zeigte eine verständnisvolle Miene und wartete ein paar Sekunden lang.
»Wenn ich es richtig verstehe, dann sind Sie seine einzige noch lebende Verwandte.«
»Ja.«
Sie schaute auf den Tisch. Rooth drehte eine Weile die Daumen.
»Was hat er gemacht?«
»Haben Sie nicht die Zeitungen gelesen?«
»Sie meinen… Sie meinen das mit seiner Frau? Das war doch seine Frau, oder?«
»Barbara Hennan, ja«, bestätigte Rooth. »Sie ist letzte Woche umgekommen, deshalb brauchen wir einige Informationen über Ihren Bruder.«
»Wozu denn? Ich will nichts mit ihm zu tun haben.«
»Fräulein Hennan«, sagte Rooth ernst und beugte sich ein Stück über den Tisch vor. »Es wird einfacher, wenn Sie nicht so viele Fragen stellen. Bei der Polizei haben wir so unser routinemäßiges Vorgehen, wir müssen so viele Informationen wie möglich sammeln, wenn wir mit Ermittlungen beschäftigt sind. Es ist nicht immer so leicht zu wissen, was dabei relevant ist und was nicht… wenn Sie verstehen?«
Sie dachte über seine Äußerung eine Weile nach, während sie ihre Hände immer wieder faltete und wieder öffnete, faltete und wieder öffnete.
»Was wollen Sie eigentlich wissen?«, fragte sie schließlich.
»Eigentlich zwei Dinge«, erklärte Rooth freundlich. »Welches Verhältnis hatten Sie während Ihrer Kindheit zu Ihrem Bruder und… zum anderen: Welche Kontakte hatten Sie zu ihm, seit er zurück ist aus den USA?«
»Darf ich die zweite Frage zuerst beantworten?«
»Aber natürlich.«
»Ich habe überhaupt keinen Kontakt zu meinem Bruder gehabt, seit er zurückgekommen ist. Überhaupt keinen. Ich habe erst vor drei Wochen erfahren, dass er offenbar in Linden wohnt, nachdem mich eine… eine Freundin angerufen und es mir erzählt hat.«
»Eine Freundin?«
»Ja.«
»Wie heißt sie?«
Elizabeth Hennan zögerte.
»Doris Sellneck. Sie war irgendwann vor fünfundzwanzig Jahren mal mit ihm verheiratet. Es hat fünf Monate lang gehalten.«
Rooth machte sich Notizen.
»Haben Sie ihre Adresse und Telefonnummer?«
»Ich möchte lieber, dass Sie sie in Ruhe lassen.«
»All right«, sagte Rooth großzügig. »Dann respektieren wir das.«
Es sollte nicht so schwer sein, eine Person dieses Namens in einem Ort wie Linden zu finden, dachte er.
»Und Ihr Bruder hat sich niemals bei Ihnen gemeldet, seit er wieder da ist?«
»Natürlich nicht.«
Rooth überlegte.
»Ich habe vier Geschwister«, erklärte er dann. »Die mögen mich alle nicht so besonders, aber sie rufen zumindest ein paar Mal im Jahr an. Alle. Es muss in der Beziehung zwischen Ihrem Bruder und Ihnen schon ernsthaft etwas nicht stimmen.«
Elizabeth Hennan gab keine Antwort.
»Hatten Sie während der USA-Zeit auch keinen Kontakt?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Warum nicht?«
Sie faltete ihre Hände und betrachtete ihre Handflächen. Ein Bus hielt direkt vor dem Küchenfenster, nach allem zu urteilen befand sich genau hier eine Haltestelle, und ein Schwarm Schulkinder quoll heraus. Ihre fröhlichen Rufe und ihr Gelächter verklangen bereits wieder, als sie antwortete.
»Jaan und ich haben seit sechsundzwanzig Jahren nicht mehr miteinander geredet.«
»Seit sechsundzwanzig Jahren?«, rief Rooth aus. »Warum um alles…«
»Seit dem Tag nicht mehr, als ich achtzehn geworden bin.«
»Ach so, ja, ich verstehe«, sagte Rooth. »Aber jetzt müssen Sie mir auch noch sagen, warum das so ist.«
»An dem Tag bin ich zu Hause ausgezogen.«
»Ja?«
»Meine Mutter ist gestorben, als ich vier Jahre alt war. Ich bin zusammen mit meinem Vater und meinem Bruder aufgewachsen, ich möchte nicht weiter darüber reden, Sie müssen mich jetzt in Ruhe lassen, ich fühle mich nicht so gut…«
Jetzt hatte sie eine andere Stimme, wie Rooth bemerkte. Er begriff, dass etwas kurz vor dem Zerbersten war, und versuchte wie ein netter Sozialpädagoge oder eine Art Beichtvater auszusehen. Das fiel ihm nicht besonders leicht, aber es war auch egal, denn Elizabeth Hennans Blick ruhte unentwegt auf ihren Händen.
»… mein Bruder war sechs Jahre älter als ich. Mein Vater war krank, das habe ich aber erst verstanden, als ich erwachsen war und er in ein Heim kam. Sie haben sich bei mir abgewechselt, seit ich zehn war. Jeden Abend, fünf Jahre lang, jeden Abend, haben Sie verstanden? War es das, was Sie wissen
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