Sein letzter Fall - Fallet G
hatte noch nicht länger als eine halbe Stunde geschlafen, als er aufwachte und sich hellwach wie ein neugeborenes Fohlen fühlte.
Verdammt noch mal?, dachte er und begann in der Schreibtischschublade nach seinem Adressbuch zu suchen. Wieso bin ich nur nicht darauf gekommen?
Nach ein paar Minuten fand er die Nummer, aber als er sie gewählt und mindestens zwanzig Freizeichen abgewartet hatte, begriff er, dass es sinnlos war.
Gewisse Menschen stehen auf und gehen ans Telefon, wenn sie nachts um zwei angerufen werden, andere nicht.
15
Es dauerte bis Freitag, bis das Faxgerät des Maardamer Polizeigebäudes den bestellten Rapport aus den USA ausspuckte. Dafür war er unerwartet lang: sechs eng beschriebene Seiten, verfasst von einem gewissen Chief Lieutenant Horniman vom Denver Police District. Van Veeteren bekam kurz nach zehn Uhr die Papiere in die Hand und ging sofort mit ihnen in sein Büro, schloss die Tür hinter sich, um sie in aller Ruhe durchlesen und einschätzen zu können.
Er wusste nicht, was er erwartet hatte – aber zumindest nicht, und zwar unter keinen Umständen, diesen merkwürdigen Inhalt, dachte er bereits, als er eine halbe Seite gelesen hatte. Ganz und gar nicht.
Es begann mit Informationen zu Barbara Clarissa Hennan, geborene Delgado. Sie stammte aus einem kleinen Kaff in Iowa, Clarenceburg, mit einer Einwohnerzahl von gut tausend Seelen. Sie war die Jüngste in einer Geschwisterschar von acht, die Familie war tiefgläubig, gehörte zu einer obskuren Vereinigung, von der Van Veeteren noch nie etwas gehört hatte.
The Sons and Daughters of the Second Holy Grail.
Barbara hatte aber sowohl ihren Glauben als auch ihre Familie verlassen und war ein paar Wochen nach ihrem sechzehnten Geburtstag mit einem Fernfahrer abgehauen. Danach war sie zehn Jahre lang zwischen verschiedenen Städten und Staaten hin und her gependelt, wie es schien, war irgendwann Anfang der Siebziger in einer anderen dubiosen Sekte untergetaucht und ein paar Jahre lang mehr oder weniger wie vom Erdboden verschluckt gewesen. Wahrscheinlich in Kalifornien, wie Horniman meinte. Dann war sie so um 1980 herum in Denver, Colorado, gelandet, hatte dort ein paar Jahre in einem Schönheitssalon gearbeitet, bis sie Jaan G. Hennan traf.
Die beiden hatten im Herbst 1984 geheiratet und anschließend in einem Vorort von Denver bis zum Frühling 1987 gewohnt, um dann nach Europa zu emigrieren. Abgesehen von einigen Strafen wegen zu schnellem Fahren und einer niedergeschlagenen Anklage wegen Besitz von Cannabis gab es keine Flecken auf Barbara Hennans Weste.
Die gab es im Großen und Ganzen auch nicht auf der Weste ihres Gatten, aber sowohl in als auch zwischen den Zeilen konnte Van Veeteren lesen, dass Chief Lieutenant Horniman starke Zweifel an dessen Ehrenhaftigkeit hegte.
Hennan war im Herbst 1979 mit einem Drei-Monats-Visum nach New York gekommen. Es war ihm gelungen, noch im gleichen Winter eine Arbeitserlaubnis zu bekommen, er hatte einige kurzfristige Jobs und verschiedene Geschäftsprojekte sowohl in New York als auch in New Jersey wie in Cleveland und Chicago gehabt. 1982 hatte er eine Frau namens Philomena McNaught geheiratet und war mit ihr nach Denver gezogen. Irgendwann im Laufe des Sommers 1983 verschwand seine Gattin in Zusammenhang mit einer Autotour in den Bethseda Park in den Rocky Mountains; der Verdacht war entstanden, dass Hennan mit dem Verschwinden etwas zu tun haben könnte, aber es fehlte an Beweisen, und eine Anklage wurde nie erhoben. Im Juni 1984 wurde Philomena McNaught für tot erklärt und Hennan konnte eine Versicherungssumme von vierhunderttausend Dollar für seine Ehefrau abheben. Sowohl die Polizei von Denver (nach den Formulierungen zu urteilen, vermutete Van Veeteren, dass Chief Lieutenant Horniman persönlich in dieser Sache engagiert war, und anscheinend sogar ziemlich intensiv) wie auch die Detektive der Versicherungsgesellschaft hatten sich große Mühe gegeben, die Umstände des mysteriösen Verschwindens von Frau Hennan offen zu legen, aber es war ihnen nie geglückt, ausreichend belastendes Material beizubringen, um Hennan vor Gericht zu stellen. Die Heirat zwischen Jaan G. Hennan und Barbara Delgado fand einen Monat nach Auszahlung des Versicherungsbetrags statt, und ungefähr ein Jahr später liquidierte Hennan seine Firma G. Enterprises, die sich in erster Linie mit dem Import von Obstkonserven aus Südostasien beschäftigt hatte. Das Paar blieb noch bis zu seinem Umzug nach Europa im
Weitere Kostenlose Bücher